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Mein Leben vor und nach der HfÖ

Autorin: Thanh Mai Denzin

Dipl. oec. Thanh Mai Denzin (geb. Nguyen Thi) hat von 1976 bis 1980 an der Hochschule für Ökonomie in der Fachrichtung „Mathematische Methoden und Datenverarbeitung in der Wirtschaft“ studiert. Sie berichtet, auf welchem Wege sie an die HfÖ kam, und erzählt von den verschiedenen Stationen ihres Berufslebens in Vietnam und Deutschland.
Am Ende des Beitrages findet sich die Rede, die Thanh Mai auf dem Absolvententreffen am17.09.2022 gehalten hat.

Wir – vietnamesische Absolvent*innen – waren Kriegskinder. Ich bin in Hanoi, Vietnams Hauptstadt geboren und wurde in der Zeit von der Vorschule bis zum Abitur zweimal aufs Land evakuiert. Dort lebte ich insgesamt sieben Jahre.

Wegen der guten Noten bei der Abiturprüfung wurden wir ausgewählt und von der Regierung zum Auslandsstudium delegiert, mit dem Ziel gute wissenschaftliche Erkenntnisse von den sozialistischen Ländern zu erwerben und unsere Heimat aufzubauen. Da ich gute Noten in Mathematik hatte, wurde ich vom Bildungsministerium für das Studium der Wirtschaftsmathematik in der DDR auserwählt.

Nach einem Jahr Deutschkurs an der Hochschule für Fremdsprachen in Vietnam sind wir am 4. Oktober 1975 mit dem Zug in die DDR eingereist, eine zweiwöchige Zugfahrt durch viele Städte Chinas, der Sowjetunion und Polens. Anschließend besuchten wir noch einen Vorbereitungslehrgang Deutsch für ausländische Studenten des Fachgebiets Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften am Herder-Institut der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Wir waren zwei Mädchen und zwei Jungs, damals gerade 18 Jahre alt und sehr stolz auf unser Studium. Unser Studienort hing total von der DDR ab. Am Anfang wollte man uns nach Merseburg schicken. Wir hatten sogar die dortige Hochschule besucht.
Aber dann kam die andere und gute Nachricht: Wir sollten nach Berlin, um an der Hochschule für Ökonomie zu studieren. Wir alle freuten uns riesig darüber, denn Berlin war die Hauptstadt der DDR, eine große Stadt mit viel mehr Möglichkeiten für uns. Desto mehr waren wir stolz, an der besten Hochschule für Wirtschaft studieren zu dürfen. Mitte Juni 1976 sind wir alle mit einem Koffer im Internat der HfÖ in der Hermann-Duncker-Straße angekommen. Wir zwei Mädchen bekamen ein Zimmer auf der 1. Etage im Haus A1. Dort gab es zwei Betten, einen Schrank, einen Tisch, zwei Stühle und zwei Regale. Einen kleinen Kühlschrank, eine Küche und ein Bad mit vier Waschbecken und einer Dusche gab es für alle auf der Etage.

Es waren gerade Sommerferien. Deshalb war alles ganz ruhig. Man konnte sogar hören, wie wir Eiswürfel klopften. Denn wir hatten Eis im Tiefkühlfach gemacht für unser Getränke aus Sirup oder mit Zitronen. Das war unser Lieblingsgetränk in der heißen sommerlichen Mittagszeit.
Im September jenes Jahres hatten wir mit unserem Studium begonnen. Wir sind dann nach Haus A3 umgezogen, wo fast alle von der Fachrichtung MDW (Mathematische Methoden und Datenverarbeitung in der Wirtschaft) unterkamen. Hier wohnten wir mitten unter den deutschen Studentinnen.

Thanh Mai mit ihrer Seminargruppe (1978)

Die 76er MDW-Student*innen wurden in drei Seminargruppen eingeteilt. Ich war in der MDW 76/3. Vorlesungen wurden im Audimax für alle vom Jahrgang 76 gehalten. Es war Politische Ökonomie (PÖ) und Statistik. In den PÖ-Vorlesungen hatte der Professor vor jeder Pause einen Witz erzählt. Es trug wohl auch zur Motivation bei, in seine Vorlesungen zu kommen. Einige Student*innen hatten sich sogar seine Witze schnell aufgeschrieben. Es gab auch politische Witze, an die ich mich heute noch gern erinnere. Z. B. über den Charakter der Chinesen wie Liebe zu Mao Tse-tung, Ehrlichkeit und Intelligenz.

Zu Beginn hatten wir viele Probleme in der PÖ-Vorlesung. Entweder hörten wir angestrengt zu, um den Lernstoff mitzubekommen, oder wir machten uns Notizen, aber beides zur gleichen Zeit ging ja nicht. Deshalb hatte die Seminargruppe eine gute Studentin beauftragt, mir zu helfen. Ich bekam dann einen Durchschlag ihrer Mitschriften. Mit denen verglich ich dann meine Notizen, um Letztere zu vervollständigen. Wir waren sehr fleißig und fast die ganze Zeit in der Bibliothek, um die gelernten Stoffe nachzulesen und besser zu verstehen. Deshalb konnte ich nach dem 1. Semester schon selber die Vorlesungen verfolgen und mitschreiben.
Andere Vorlesungen wie Mathematik, Programmierung, Philosophie etc. speziell für Studenten der Fakultät Leitung, Informationsverarbeitung und Statistik (LIS) hatten wir in der Aula im Hauptgebäude. Seminare wurden im Raum unter der Bibliothek abgehalten.

Vietnamesische Studenten beim Sport (1978)

Ähnlich den Erinnerungen anderer Absolvent*innen der HfÖ wurden unsere Studienzeit und das Internatsleben durch Selbststudium, Gruppenhausarbeit, Mensaessen, Sport, Vergnügungen im Studentenclub, verschiedene Feiern im Clubraum Haus A3 und Studentenarbeitseinsatz (mal in der Küche, mal als Pförtner im Haus A3) geprägt. In den Ferien hatten wir sogar in einigen Berliner Betrieben gearbeitet, um etwas Geld für Luxuswaren oder Urlaub im Sommer zu verdienen. Unsere Lieblingsbetriebe waren Nava, das Getränkekombinat in Marzahn, EAW in Treptow … besonders der VEB Secura in der Chausseestraße in Berlin. Als Studentin der MDW-Fachrichtung besuchte ich mit den anderen viele Messen für Rechentechnik und Datenverarbeitung. In unserem HfÖ-Rechenzentrum testeten wir unsere Programmierungsarbeit. Alles in allem, war es eine schöne und interessante Zeit für uns.

Nach dem Studium mussten wir alle nach Vietnam zurück. Wir selbst waren damals sehr stolz, nunmehr mit unseren neuen, an der HfÖ erworbenen Kenntnissen unserer Heimat zu dienen. Die Praxis sah aber ganz anders aus. Meine Bewerbungen an die Rechenzentren, die nur in einigen Ministerien Vietnams existierten, wurden abgelehnt. Ich war total enttäuscht. Aber ich wollte in Vietnam bleiben und arbeiten. Es war eine schwere Zeit für mich. Nach fast einem Jahr hatte ich eine Stelle als Angestellte in der Import-Export-Abteilung der Firma für Kinofilme bekommen. Hier konnte ich nichts von meinen Kenntnissen über Programmierung, EDV oder mathematische Modelle anwenden. Schade. Dafür kamen aber meine Deutschkenntnisse bzw. das deutsche logische Denken, optimale Methoden bzw. Arbeitsorganisation usw., was ich an der HfÖ und in der DDR gelernt hatte, in meinem jetzigen Bereich zum Tragen. Ich war sehr beliebt in der Firma.

Als ich die Zusage von dieser Firma erhielt, bekam ich auch ein Angebot vom Ministerium für Verteidigung, im dortigen Rechenzentrum zu arbeiten. Ich stand vor der Wahl, was tun? Computer oder Filme? Ich bin vom Typ her etwas locker, liberal und romantisch. Freie Angestellte oder Offizierin? Ich wollte nicht mein Leben mit Befehlen ausfüllen. Schnell fiel dann auch die Entscheidung. Die Arbeit in der Firma brachte mir eine ganze Menge von der DDR. Ich konnte jeden Tag DDR-Filme ansehen. Alle zwei Jahre durfte ich eine Delegation begleiten, mal nach Berlin, mal in Vietnam. Es machte mir viel Spaß und Freude.

Die Wende in Deutschland bewirkte auch viele Veränderungen in Vietnam bzw. in meiner Firma. Als wir hörten, dass die Mauer und die DDR nicht mehr existierten, waren viele von uns enttäuscht. Der Direktor des vietnamesischen Trickfilmstudios, der mehrmals in Dresden war, sagte zu mir: Warum? Die DDR war schon ein Paradies für uns … So waren unsere Gedanken. Zuvor hörten und dachten wir nur schlecht über den Kapitalismus. Wir waren noch nie außerhalb des sozialistischen Blocks. So zu denken war normal bei uns. Natürlich erleben wir jetzt die guten und nicht  so guten Seiten des sozialdemokratischen Systems, wie etwa in Deutschland. Wir lernten nun mit objektiveren Augen die Welt anzuschauen.

Anfang der 90er Jahre hatten viele ausländische Firmen, darunter auch deutsche Firmen, ihre Produkte in Vietnam präsentiert und exportiert. Ich begleitete auch einige Delegationen als Dolmetscherin. Bei einer Messe in Vietnam bot mir die Firma Textima an, in ihrem Hanoier Vertretungsbüro zu arbeiten. So fing ich 1992 dort an als Büromädchen für alles zu arbeiten. Die Arbeit brachte mir nicht nur Spaß, sondern bessere Einkünfte, außerdem durfte ich viel reisen.

Dann kam eine Nachricht aus Deutschland: Alle Absolvent*innen der Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaft sollten ein Zusatzstudium mitmachen. Das Studium wurde von der DAAD finanziert und von der Fernuniversität Hagen durchgeführt. Jedes Semester kam ein Professor aus Deutschland und unterrichtete uns für 2-3 Wochen. Lernstoffe bekamen wir in der Deutschen Botschaft oder durch E-Mails.  Absolvent*innen der Wirtschaftswissenschaft wurden in BWL und VWL geteilt. Parallel zum Beruf lernten wir in der Gruppe zusammen. An den Wochenenden oder Abenden trafen wir uns, um Lernstoffe zu studieren und uns auszutauschen, sowie Übungen, Hausaufgaben zu erledigen und dann zur Uni Hagen zu mailen.
Klausuren und Prüfungen wurden unter Aufsicht der deutschen Botschaft in Hanoi durchgeführt und nach Deutschland geschickt. Es war sehr anstrengend. Einige konnten nicht mehr daran teilnehmen bzw. die Prüfungen nicht schaffen. Im September 1997 erhielten wir das Zeugnis durch den BRD-Botschafter in seiner Hanoier Residenz. An diesem Abend hatten wir unser erfolgreiches Studienergebnis richtig gefeiert.

1999 habe ich mich bei der AHK Vietnams (Auslandshandelskammer Deutschland in Hanoi) beworben und dort bis Oktober 2005 gearbeitet. Meine Aufgabe in diesem Büro lautete: Informationen über die Wirtschafts- und Industriezweige Vietnams für deutsche bzw. ausländische Firmen zu sammeln und zu veröffentlichen.

Seit Oktober 2005 lebe ich aus privaten Gründen wieder in Deutschland. Jetzt bin ich Büroangestellte in der KDM Kompostierungsanlage Düsseldorf/Mettmann.

Heute bin ich immer noch sehr stolz auf meine Zeit an der HfÖ, und nach so vielen Jahren kann ich jetzt feststellen, dass mein Lebensstil, mein Verhalten, mein Beruf und mein Charakter und vieles mehr hauptsächlich von HfÖ geprägt ist.
Ich bleibe immer ein HfÖ-Kind.

Auf dem Absolvententreffen am 17.09.2022 hat Thanh Mai die nachfolgende Rede gehalten.

Thanh Mai (2. von links) bei ihrer Rede am 17.09.2022

Sehr geehrte Gäste, liebe Freunde liebe Freundinnen!

Wir freuen uns sehr, dass wir heute unserer Hochschuljubiläum feiern dürfen. Wir haben diesen Tag schon vor zwei Jahren mit viel Freude erwartet. Wir grüßen herzlichst im Namen aller vietnamesischen Absolventen und Absolventinnen der HfÖ und wünschen allen Teilnehmer/innen ein schönes bedeutungsvolles Fest.

Wie alle anderen Absolventen/inne der HfÖ waren wir sehr bewegt, als wir von unserem Treffen gehört haben. So viele liebvolle Erinnerungen an unsere Jugendzeit, unsere Studienzeiten kehren zurück wie ein interessanter Film. Über vier Jahre lang auf dem Weg von Internat zum Audimax, zur Mensa, zur Bibliothek… so viele aktive Sportstunden sowie wunderschöne Abende in unserem gemütlichen Studentenclub… alles ist ein unvergesslicher Teil unseres Lebens, an den wir uns immer erinnern, von dem wir immer erzählen werden, wenn wir uns in Vietnam treffen.

Als MDW-Absolventen erinnern wir uns an die mündlichen Prüfungen mit Prof. Werner Dück. Er wusste, dass seine vietnamesischen Studentinnen gut in Fach Mathematik sind. Nach ein paar Fragen haben wir schon gute Noten bekommen.

Zu Gast bei Familie Aleku (1977)

Wir erinnern uns an Frau Dr. Renate Aleku. Sie hat uns nicht nur viel geholfen bei unserer Hausarbeit, damit wir gute Note in der Politische Ökonomie bekommen. Sie hat uns sogar zu sich eingeladen, um mit ihrer Familie zu feiern.  Das waren nur einige von viele schönen Erinnerungen, die wir nie vergessen werden. Mit den an der Hochschule erworbenen Kenntnissen und den erlebten deutschen Stärken wie Ordnung, Moral und Disziplin bereichern sie noch heute unser Leben.

Wir erinnern uns an viele Feiern an der Hochschule und besonders die Faschingsfeier, an der alle Studenten/innen und Professoren, Mitarbeiter zusammen gesungen, getanzt und Quatsch gemacht haben. In solchen Momenten war nicht an Vorlesungen, Seminare, Noten, Klausuren zu denken. Bei einer Faschingsfeier hing ein großes Poster am Eingang zum Audimax: Ein Junge stand auf dem Tisch und hielt eine Glühbirne in der Hand. Vier weitere an jedem Tischbein drehten den Tisch und somit die Glühbirne in die Fassung. Darunter stand: Das sind Ökonomen. So waren wir damals. Wir haben über uns selber Witze gemacht. Peter Amendt, ein deutscher Franziskaner und Sozialwissenschaftler hat geschrieben: Wer über sich selber lachen kann, hat mehr vom Leben. So sind wir, die Absolventen und Absolventinnen der HfÖ.

Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit. Ich wünsche allen viel Spaß und alles Gute.