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An ihnen hing das „rote Fähnchen“

Unter dieser Überschrift hat Dorothea Grass am 15.11.2014 in der Süddeutschen Zeitung einen Artikel veröffentlicht, in dem zwei Ostdeutsche, deren Zukunftsaussichten in einem systemrelevanten Beruf gesichert waren, schildern, wie die Wende in der DDR ihre Berufe verschwinden ließ – noch bevor ihre Karriere richtig begann. Einer der Gesprächspartner war Dipl. oec. Thomas Lünser (AW 84/7). Mit freundlicher Genehmigung der Autorin und mit Zustimmung von Thomas, der Miteigentümer des „Flaggenhaus am Alex“ ist, geben wir seine damalige Schilderung hier wieder.

Ich stamme aus einem kleinen Dorf im Thüringischen und wollte immer etwas sehen von der Welt. Ich durfte auf einer EOS mein Abitur machen, war drei Jahre im Wachregiment und bin dann zum Studium an die Hochschule für Ökonomie nach Berlin. Das war schon was. Die HfÖ galt als Nachwuchsschmiede für sozialistische Führungskräfte in der Wirtschaft.
Mit 20 Jahren bin ich freiwillig in die SED eingetreten. Ich wollte was bewirken und habe mir gesagt, wenn, dann geht das nur in der Partei.
Im März 1989 habe ich mein Diplom als Ökonom gemacht und direkt im Anschluss meine erste Stelle im Außenhandelsministerium angetreten. Ich war 25 Jahre alt. Im Ministerium arbeiteten insgesamt 10.000 Leute, die den kompletten Außenhandel des Landes lenkten.
Ich hatte mich schon während meines Studiums verstärkt mit kapitalistischen Systemen in Übersee beschäftigt; Taiwan, Hongkong, Singapur. Für meine Arbeit im Ministerium kam das gelegen. Wir hatten konkrete Interessen daran, mit solchen Ländern zusammenzuarbeiten. Sie hatten genau wie wir wenig Bodenschätze und eine starke Abhängigkeit von Außenmärkten.

Als die Wende kam, war ich gerade im Urlaub in der Tschechoslowakei. Ich habe miterlebt, wie die Leute über Prag ausreisten. Aber ich hatte keine Lust, die DDR zu verlassen. Ich kam in dem Land gut zurecht. Ich habe natürlich mitbekommen, dass die DDR Probleme hatte. Ich war aber der Meinung, dass man unser System reformieren kann, ohne den Sozialismus dabei über Bord zu werfen. Ich gehörte zu den Anhängern von Gorbatschows Perestroika. Die Ereignisse haben uns aber dann überrollt. Wir hatten mit unseren Reformvorhaben keine Chance.
Innerhalb des Ministeriums waren die neuen Denkansätze aus der Sowjetunion schlicht tabu. Besonders die Älteren sahen Perestroika und Glasnost als nicht akzeptabel für die DDR an – für die war das eine Bedrohung.
Was meine Arbeit im Ministerium betrifft, hätte es für mich und meine jüngeren Kollegen auch einen anderen Weg gegeben: Offenlegung der Zahlen, Subventionen und Schenkungen aus dem Westen; Planvorgaben und ihre Einhaltung, eine ehrliche Evaluierung unseres Außenhandels. Eine Liberalisierung der Märkte und eine Demokratisierung des Systems.
Stattdessen hatten wir ganz offiziell die Vorgabe, die Zahlen falsch zu evaluieren. Das System DDR verschob die Tatsachen und Belege. Wir hätten gerne offengelegt, was wirklich etwas wert ist und was nicht. Stattdessen haben wir mit den Zahlen oft im Nebel gestochert und dann Bilder unserer Wirtschaft wiedergegeben, die verzerrt waren.

Die Auflösung des Ministeriums wurde auf einen Schlag beschlossen, die Abwicklung zog sich dann etwa über ein Jahr. Zuerst wurden die 700 Leute entlassen, die als letzte hinzugekommen waren. Nach dem Motto: Ihr seid jung, ihr schafft das schon. Ich bekam also im Januar 1990 einen freundlichen Händedruck und gute Wünsche – und das war’s.
Der Untergang der Welt war es für mich trotzdem nicht. Ich habe darauf vertraut, irgendetwas anderes zu finden. Ich hatte schließlich eine sehr gute Ausbildung. Auf meine ersten Bewerbungen bekam ich gleich mehrere Zusagen.
Mein Abschluss wurde von der BRD als Diplom-Kaufmann anerkannt. Ein Diplom-Ökonom war aber eigentlich mehr. Unser Studium bestand aus Wirtschaftswissenschaften: sozialistischer Betriebswirtschaftslehre und Volkswirtschaftslehre. Dazu kamen eine technologische Grundausbildung und verstärkt Mathematik und Sprachen: Russisch, Englisch, Französisch und Spanisch. Im Westen gab es dazu kein echtes Äquivalent. Ich hatte im Herbst 1989 bereits mit meiner Doktorarbeit angefangen, die ich gerne auch zu Ende gebracht hätte. Ich fand aber nirgendwo eine Fakultät, bei der ich sie hätte fertig schreiben können.

Ich hatte dann den ökonomischen Druck, Geld zu verdienen. Ich habe also zunächst parallel als freier Journalist sowie als Maler und Grafiker gearbeitet. Ich habe auch für verschiedene Westmedien aus dem Osten berichtet – die hatten ja kaum Leute, die sich mit der DDR auskannten. Die Freiberuflichkeit lief mal besser, mal schlechter. Aber ich wollte gerne eine feste Einnahmequelle und so habe ich 1990 als Kaufmann in einem arabischen Handelshaus angefangen und wurde nach und nach die rechte Hand des Chefs. Für ihn war ich vor allem in Nordafrika unterwegs: Tunesien und Marokko. Ich habe aber auch Textilien aus Indien, Bangladesch und Thailand eingekauft oder auch Tee aus asiatischen Ländern. Seit 1993 bin ich selbständig und betreibe bis heute in Berlin einen Fachhandel für Flaggen. Die DDR-Fahne haben wir auch im Sortiment, aber sie führt eher ein Exotendasein.

Am Anfang habe ich mich gegenüber der Deutschen Demokratischen Republik loyal verhalten. Mit dem Zusammenbruch des Systems kam eine tiefe Enttäuschung in mir hoch. Ich selbst hatte ja nie viel auszustehen gehabt in dem Land. Je mehr über die wahren Zustände in der DDR bekannt wurde, umso größer wurde meine Distanz zu dem Staat. Unsere internationale Stellung bei Wissenschaft und Technik entsprach nicht dem, was uns immer erzählt worden war. Unsere Spitzensportler waren gedopt. Was mich am meisten enttäuscht hat, war aber, dass man es nicht geschafft hat, zu seinen Leuten aufrichtig zu sein. Es war eine heftige Erfahrung für mich, dass das Land, das meine Heimat war und an das ich geglaubt habe, in so kurzer Zeit wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel. Ich habe jahrelang gebraucht, das zu verarbeiten.

Der alte Staat wollte meine Seele, der neue Staat mein Geld. Natürlich bin ich Bürger der Bundesrepublik Deutschland, aber emotional empfinde ich da nicht viel – leider. Wenn ich Bilder oder Filmsequenzen von der DDR sehe, dann ist da immer noch eine emotionale Verbundenheit – und gleichzeitig ein Stich ins Herz. Ist schon richtig, dass das Land untergegangen ist, denke ich rein rational. Aber Kopf und Herz wollen da einfach nicht einhergehen. Es bleibt eine innere Zerrissenheit.
Ich habe keine Lust mehr, mich in die Nähe irgendeines Staates zu stellen. Ich habe einmal mein Herz an einen Staat gehangen und dann auch noch an den falschen. Das reicht als Erfahrung fürs Leben. Das möchte ich nicht nochmal. Ich bin am liebsten mein eigener Herr.