Autorin: Christa Luft
Prof. Dr. sc. Christa Luft (AH 56/1) hat sich nach ihrem Studium für eine wissenschaftliche Laufbahn an unserer Hochschule entschieden und wurde 1972 zur ordentlichen Professorin berufen. Sie war Sektionsdirektorin und seit 1988 Rektorin, bis Hans Modrow sie 1989 als Wirtschaftsministerin in seine Regierung berief. Von 1994 bis 2002 war sie Mitglied des Deutschen Bundestages.
Aufgewachsen in einem Dorf bei Wismar, war es mein Kindheitsraum, später etwas mit Tieren zu machen. Und würde ich studieren können, sollte es Veterinärmedizin in Rostock sein. Doch es kam anders. Nach der 11. Oberschulklasse wurde ich 1955 nach Halle an die ABF II mit verstärktem Russischunterricht delegiert. Dort gab es zwar einen medizinischen Zug, ich wurde aber nicht aufgenommen, weil mir ein Jahr Latein fehlte. Damals war das Kleine Latinum dafür noch Voraussetzung. Was also tun?
Zum Glück erschienen Vertreter der neu gegründeten Hochschule für Außenhandel (HfA) in Staaken und warben Interessenten. Da ich auch Wirtschaft, Fremdsprachen und Außenpolitik etwas abgewinnen konnte, meldete ich mich an. Meine Bewerbung war erfolgreich, und so startete ich im September 1956 in einem Grenzgebiet zwischen Ost und West eine neunsemestrige Ausbildung. Anno 1958 wurde diese Hochschule als Fakultät Außenhandel der Hochschule für Planökonomie (Hopla) in Karlshorst angegliedert, wie zwei Jahre vorher schon die Finanzhochschule Babelsberg. Es entstand die Hochschule für Ökonomie (HfÖ).
Im Dezember 1960 erhielt ich dort mein Diplom und wurde zusammen mit sechs männlichen Absolventen „geworben“ für die Besetzung der ab Januar 1961 zugewiesenen Assistentenstellen. Wir hatten alle schon Arbeitsverträge mit Außenhandelsbetrieben, aber es hieß nach der damals nicht unüblichen, kaum Widerspruch zulassenden Frage „Ihr seid doch wohl für den Frieden, oder?“ Die Assistenz war verbunden mit der Möglichkeit zu promovieren. Meine Dissertation A verteidigte ich im April 1964 und von da an durchlief ich, dann bald mit zwei Kindern, alle Stationen einer Hochschullaufbahn: Oberassistenz, Dozentur nach der Promotion B anno 1968, ordentliche Professur 1972, Tätigkeit in einem internationalen ökonomischen Forschungsinstitut in Moskau 1978-1981, Berufung zur Rektorin der HfÖ 1988.
Wie ich waren die meisten anderen Kommilitonen aufgrund des in der DDR gebrochenen Bildungsprivilegs die ersten in ihren Familien, die ein Studium aufnehmen konnten. Wir bekamen Stipendium, wohnten günstig im Internat und wurden mittags von einer tüchtigen Küchenmannschaft mit schmackhaftem Essen versorgten.
Von Beginn an waren in meiner Seminargruppe ausländische Studierende, zwei Spanier und ein Grieche aus antifaschistischen Elternhäusern, sowie zwei Chinesen. Sie integrierten sich mit unserer Hilfe rasch, zu einigen hält die Verbindung bis heute. Bei Auslandspraktika in sozialistischen Ländern lernten wir ein Stück von der Welt kennen. Ich war auf diese Weise in der Tschechoslowakei, in Ungarn und Bulgarien.
Legendär war an der HfÖ der Fasching. Ein Erlebnis aus dem Februar 1960 habe ich zum Gaudi im Familien- und Freundeskreis oft erzählt. In der großen Mensa wurde ausgelassen getanzt. Einmal forderte mich ein offenbar zu einem Sonderlehrgang gehörender Herr zum Tanz auf. Nachdem wir 4-5vier bis fünf Runden gedreht hatten, meinte er: „Ich möchte mich mal vorstellen, mein Name ist Günter Hering“. Ich habe wohl etwas verdutzt geguckt, denn er fragte, ist was? Ich: „Nein, nein. Mein Name ist Christa Hecht“. Er nahm wohl an, ich würde ihn verklapsen. Daher rief ich einer vorbeitanzenden Studienfreundin zu: „Sag doch dem Herrn bitte mal meinen Namen“. Das tat sie, die Sache war geklärt, und wir lachten beide.
Rückblickend auf meine Studienzeit denke ich gern an theoretisch fundierte, methodisch gut aufbereitete Vorlesungen der lehrerfahrenen und durch eigene Publikationen ausgewiesenen Gastprofessoren Helmut Koziolek (Politische Ökonomie) und Gunther Kohlmey (Außen- und Weltwirtschaft) sowie Hans Mottek (Wirtschaftsgeschichte) zurück. Alle drei waren Ordentliche Mitglieder der Akademie der Wissenschaften der DDR. Für sie war der Marxismus keine starre Doktrin, sondern Überlieferung und Verheißung zugleich. Sie legten auf das Denken in Zusammenhängen wert. Da die HfÖ aber eine junge, sich noch im Aufbau befindliche Einrichtung war, kamen auch Lehrkräfte zum Einsatz, die umfangreiche Praxiserfahrungen mitbrachten, denen es aber zum Teil an theoretischer Basis und an pädagogischem Geschick mangelte. Mit der Zeit wurden diese Defizite und auch die anfängliche meist einseitige und dogmatische Bezugnahme auf Ergebnisse der Sowjetwissenschaft behoben. Etwas, das ich erst viel später als Manko empfand, war der damals fehlende oder sehr beschränkte Zugang zu nichtmarxistischer Literatur im Original. Verständlich war, dass aus Devisenmangel nicht alle volks- und außenwirtschaftlichen Standardwerke und auch nicht wichtige aktuelle West-Fachzeitschriften bereitgestellt werden konnten. Mitunter wurden auszugsweise ein paar Seiten kopiert und verteilt. Daran sollte die Auseinandersetzung mit bürgerlichen Auffassungen geübt werden. Im Grunde war das ein Misstrauen in unsere Fähigkeit, selbstbewusst mit anderen Meinungen umzugehen, aber auch die Furcht vor missliebigen politischen Fragen. Mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Schulen kamen wir dezidiert nur im Fach „Geschichte ökonomischer Lehrmeinungen“ in Kontakt. Auf das von Smith und Ricardo zum Freihandelstheorem Gehörte konnte ich noch Anfang der 2000-er Jahre zurückkommen. An den Sprachunterricht, ob Russisch, Englisch oder Französisch, habe ich durchweg gute Erinnerungen.
Als junge Assistentin hatte ich Gelegenheit, in einer vom damaligen HfÖ-Rektor Prof. Alfred Lange geleiteten Arbeitsgruppe die lebhaften Debatten zum Neuen Ökonomischen System zu verfolgen. Der Grundgedanke des tschechischen Ökonomen Ota Šik, die Symbiose von Plan und Markt, also ein Gegenentwurf zur bürokratischen Staatswirtschaft, war auch ein Pfeiler der Reformideen von DDR-Wissenschaftlern wie Fritz Behrens, Arne Benary, Gunther Kohlmey, Herbert Wolf und anderen. Leider wurde dieses Projekt von einer sterilen Gruppierung in der SED-Führung amputiert und schließlich beerdigt, bevor das Modell einer sozialistischen Reformökonomie ausreifen konnte. Diskussionen um die Reformierung des sozialistischen Wirtschaftssystems erstarben fortan nicht, wurden aber auch an der HfÖ mehr in kleinen Zirkeln als öffentlich geführt. Mehr Mut, wenn auch mit einem gewissen Risiko verbunden, hätte uns wie Ökonomen anderer Einrichtungen damals gut zu Gesicht gestanden.
Mir war es nicht an der Wiege gesungen, in einer der turbulentesten Zeiten der jüngeren deutschen Geschichte in ein Regierungsamt zu kommen. Ich hatte das auch nie angestrebt. In meiner Antrittsrede bei der Amtseinführung als Rektorin der HfÖ am 28. Oktober 1988 hatte ich einen Satz gesagt, der bald darauf für mich unerwartete persönliche Konsequenzen haben sollte: „Ich möchte, dass dieses große leistungsfähige Kollektiv nicht immer im Nachhinein die Beschlüsse von Partei und Regierung als weise begrüßen und propagieren soll, ich möchte, dass wir im Vorfeld daran mitarbeiten können. Nicht weil wir Besserwisser sind, sondern weil Wissenschaft eine Bringschuld gegenüber der Gesellschaft hat. Wenn sie der nicht nachkommen darf, wie wir es häufig erleben, ist sie überflüssig.“ Nie zuvor hatte ich im voll besetzten Auditorium maximum einen solch tosenden Applaus erlebt. Vergessen werde ich aber auch nicht, wie Ehrengäste in der ersten Reihe pikiert die Blicke senkten. Mein Vorschlag, zeitnah kleine Gruppen von Fachleuten zu bilden, die zu drängenden Themen Zustandsanalysen vornehmen, Probleme benennen und Lösungen anregen, stieß auf Begeisterung. Mit einem Glückwunsch zu seiner Wahl und dem Angebot, seine Regierung, falls gewünscht, zu beraten, übersandte ich Hans Modrow, den ich nicht persönlich kannte, unsere Überlegungen. Die allerdings waren nach der chaotischen Maueröffnung durch Günter Schabowski am 9. November 1989 zum großen Teil obsolet.
Zu meinem Intermezzo in der Modrow-Regierung sage ich immer noch: Ich möchte es nicht missen, aber auch nicht wiederholen. Es spannt physisch und psychisch außerordentlich an zu erleben, wie die Führung der Sowjetunion zusehends die Hand wegzieht von ihrem einstigen Faustpfand in der Systemauseinandersetzung, wie von der alten Bundesrepublik eine mit viel Geld und Arroganz gespeiste Einmischungskampagne läuft und das ungeduldige Warten vieler Bürgerinnen und Bürger auf schnelle Veränderungen im Lande täglich zunimmt und die Ausreisen anhalten. Für Politik nach dem Lehrbuch für Marxismus-Leninismus, die manche „linke“ Hardliner bei der Modrow-Regierung vermissten, boten die Umstände keine Chance. Ganz abgesehen davon, dass manche darin zementierten Postulate und versteinerten Prinzipien ohnehin schon lange mit der Realität nichts mehr zu tun hatten. Meine Berufung in das Regierungsamt habe ich immer als Würdigung der an der HfÖ insgesamt geleisteten Bildungs-, Erziehungs- und Forschungsarbeit gewertet.
Zusammentreffen mit Alt-BRD-Politikern, auch Wissenschaftlern, boten in dieser Zeit einen Vorgeschmack auf das, was wir nach der deutschen Einheit täglich erlebten, zum Teil noch erleben: Überheblichkeit, Arroganz, keine Bereitschaft, vom anderen Teil Deutschlands auch nur das Geringste zu akzeptieren oder gar zu übernehmen. Hier nur wenige Beispiele:
Vor der gemeinsamen Tagung der Kohl- und der Modrow-Regierung Mitte Februar 1990 in Bonn hatte ich ein Treffen mit Horst Köhler, Staatssekretär im Bonner Finanzministerium, dort verantwortlich für die Finanzbeziehungen mit der DDR und späterer Bundespräsident. Nach freundlichem Empfang fragte er strahlend: „Springen Sie nun nicht drei Meter hoch, Frau Luft“? Ich: “Warum sollte ich“? „Na, der Bundeskanzler hat der DDR doch angeboten, alsbald die D-Mark als Zahlungsmittel zu übernehmen“. Ich: „Sicher werden sich viele Menschen freuen, hartes Geld in der Tasche zu haben, mit dem sie sich lang gehegte Wünsche erfüllen können. Aber es gibt natürlich Pferdefüße“. Er: „So, was meinen Sie damit?“ Ich: „Es ist doch marktwirtschaftliches ABC: Sobald in der DDR die D-Mark Zahlungsmittel ist, werden die Regale in den Geschäften mit Westwaren vollgestopft und die DDR-Produkte ausrangiert. Wo aber kein Absatz, kann nicht produziert werden, die Folge ist Arbeitslosigkeit. Dasselbe wird auf den Ostmärkten passieren. Woher sollen die bisherigen Abnehmer dort über Nacht harte Valuta nehmen, um die Importe statt mit Transferrubeln zu bezahlen? Da droht die nächste große Arbeitslosigkeitswelle.“ Köhler rutschten fast die Kinnladen herunter. Er konnte nicht begreifen, dass da jemand mit der harten Deutschen Mark in Aussicht solche Einwände äußern kann. Ihm fiel nur ein, zu fragen: „Warum argumentieren Sie denn so arrogant, Frau Luft“?
Im März 1990 hatte ich einen öffentlichen Disput mit dem FDP-Guru Otto Graf Lambsdorff. Ich sagte, ich vermisse im Grundgesetz der Bundesrepublik ein Recht auf Arbeit oder auf Arbeitsförderung. Darauf er: „Wenn Sie das in der Marktwirtschaft wollen, können Sie auch Sonnenschein an hohen Feiertagen fordern“. Für ihn und viele andere war ein vereintes Deutschland nur als Groß-Westdeutschland denkbar, Veränderungen waren tabu.
Nachdem die bürokratische, überzentralisierte Planwirtschaft gescheitert ist, werden jetzt die Krankheitssymptome der kapitalistischen Marktwirtschaft immer offenbarer. Die Corona-Pandemie hat endgültig die Erzählung widerlegt, dass eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik mit minimalen Eingriffen in das Marktgeschehen einhergeht. Nach Jahren der Diskreditierung einer ökonomischen Tätigkeit des Staates ist deren Notwendigkeit in den aktuellen Krisenlagen besonders spürbar. Gleichzeitig erleben wir einen Wandel staatlicher Funktion. Der künftige Weg führt jedoch weder zum neoliberalen Rumpfstaat noch zur übergriffigen Planungsbehörde. Es braucht einen intelligenten, demokratiebasierten Staat, der gesamtgesellschaftliche Ziele aktiv verfolgt und in bestimmten Bereichen auch als Unternehmer tätig wird. Um von einer Kapitallogik determinierten zu einer gemeinwohlorientierten Wirtschaftsweise zu kommen, müssen gesellschaftskritische, auch marxistische Positionen im geistigen Leben Deutschlands vertreten bleiben bzw. wieder stärker werden. Der Mensch ist mehr als ein homo oeconomicus, wie die traditionelle, an den ökonomischen Hochschulen der BRD bis heute dominierende neoklassische Theorie postuliert. Deren weitgehende Abstinenz von makroökonomischen Themen gehört überwunden.
Als Blaupausen können Lehrprogramme aus realsozialistischen Zeiten nicht gelten, aber sie taugen für mehr als den Papierkorb. Wenn es darum geht, Konsequenzen aus den jüngsten wirtschaftlichen und finanziellen Fehlentwicklungen in Deutschland und Europa zu ziehen, kann die Grundsubstanz der ökonomischen Ausbildung in der DDR in Teilen durchaus anregend sein. Heute dominieren mathematische Modelle und betriebswirtschaftliche Techniken die Lehre und verdrängen die makroökonomische Sicht, die immer soziale und ökologische Belange einschließen muss. Unverzichtbar ist ein ganzheitlich orientiertes Ökonomiestudium mit gesamtgesellschaftlichem Bezug, wie es – bei allen nicht zu leugnenden politischen Beschränkungen – im Laufe der Zeit zunehmend angestrebt wurde. Das bestätigen HfÖ-Absolventen, von denen die meisten auch in der „Neuzeit“ erfolgreich ihren Mann und ihre Frau gestanden haben und stehen. Viele erzählten mir, ihre westdeutschen Chefs würden fragen: „Haben Sie zwei Diplome? Sie sind fachlich versiert und können komplex denken.“
Ein schönes Kompliment, wie ich finde.