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Die HfÖ und ich – Rückblick im Jahr 2020

Autor: Wilfried Gräser

Dipl. oec. Wilfried Gräser (SVW 70/2) hat an der Hochschule für Ökonomie die Spezialisierungsrichtung Territorialökonomie absolviert und war über 40 Jahre sowohl in der Plan- als auch in der Marktwirtschaft auf diesem Gebiet tätig. Er berichtet über seine guten und weniger guten Erinnerungen an Studienbedingungen, Lesesaal, Wohnheim, Club, Studentenbrigaden und über seine Erfahrungen in Theorie und Praxis.

Meine Studienbewerbung 1970 an der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst war erfolgreich. Zwischen Bewerbung und Studienbeginn erfolgte im Rahmen der „Systemperiode“ eine Umbenennung der Sektion Volkswirtschaft in „Ökonomisches System des Sozialismus“ – kurz „ÖSS“ genannt. Schmunzeln ist angebracht, denn man merkte doch bald, dass solche Wortspielereien nichts bringen und alsbald war ich doch wieder Student der Volkswirtschaft. Meinem Spezialgebiet, der Territorialökonomie, blieb ich unverändert treu und erwarb auch darin 1974 mein Diplom. Während des 4-jährigen Studiums war der Lesesaal mein Lieblingsort! Ich mochte den alten Lesesaal im Hauptgebäude mit rustikalen Tischen und Sichtblenden und die Ruhe beim Arbeiten. Ja, ich war bestimmt ein wissbegieriger Student, las viel, machte mir meine Exposés und eignete mir Vieles an.

Auch diese Keramik mit einer Formel aus der Input-Output-Analyse schmückte die Wand im Studentenclub

Zum Ausgleich nutzte ich die vielen Angebote des Studentenclubs und arbeitete dort selbst mit. In der ehemaligen Post im Hauptgebäude wurde dann auch von uns Studenten der Club ausgebaut. Ein sehr schönes Keramik-Mosaik verkleidete die Wand – themengerecht für unsere Hochschule mit der Formel W= c+v+m! Heute ist diese Marx’sche Formel zwar immer noch wichtig, wird aber leider nicht oft oder gar nicht mehr verstanden!
Auch im Motorsport der GST machte ich mit. Wir hatten ein paar 150er MZ in Pflege. Ab und an fuhren wir eine Cross-Strecke auf dem Ruinen- bzw. Schuttberg hinter dem Berliner Tierpark Friedrichsfelde. Zeitweilig betätigte ich mich auch im Segelclub der HfÖ in Rauchfangswerder, was besonders an sonnigen Wochenenden recht angenehm war.

Anfang der 1970er Jahre wurden auf Grund der Engpässe in der Zulieferindustrie der DDR viele zusätzliche Sonderschichten in den volkseigenen Betrieben gefahren. Die FDJ rief ihre Mitglieder auf, die Zulieferbetriebe zu unterstützen und organisierte eine FDJ-Initiative. Bei den Karlshorster Ökonomie-Studenten war hier der Aufruf besonders „laut“, und es hingen Listen von Berliner Betrieben aus, die Verstärkung besonders in den Nacht- und Wochenendschichten suchten. Da ich nicht jedes Wochenende nach Hause „auf mein Dorf“ fuhr, meldete ich mich sehr oft zum Arbeitseinsatz.
So war ich in Berliner Betrieben wie Elektrokohle, KWO, Halbzeugwerke Schöneweide, Furnierwerk Rummelsburg und anderen zur Schicht. Nicht immer war ich als Schlosser (mein Beruf) oder Dreher gefragt, manches Mal waren auch nur anstehende einfache und schmutzige Arbeiten zu erledigen. Es wurde gut und gleich in bar bezahlt und so das Stipendium aufgebessert. Auch stellte sich das Gefühl ein, etwas Nützliches geleistet zu haben! Und ab und an wurde noch ein gemeinsames Bier nach Schichtschluss in einer Eckkneipe mit den neuen „Arbeitskollegen“ getrunken. Es war ohnehin ein entspanntes Verhältnis zwischen Studierenden und Arbeitern. Das lag sicherlich auch daran, dass wir alle eine Berufsausbildung hinter uns hatten und alle wussten, wie es in den Betrieben zugeht.
Das fehlt heute nach meinen Beobachtungen den Angestellten und Beamten in Verwaltungen und Ämtern – abgehoben, könnte man mit einem Wort dafür sagen!

Für alle Nicht-Berliner Studenten gehörte ein Platz im Studentenwohnheim bei der Immatrikulation dazu. Wir „Volkswirte“ wohnten im damaligen Hans-Loch-Viertel. Heute existiert dieses Wohnheim weiter im Studentenwerk Sewanstraße. Der Fußweg zur HfÖ war nur eine Viertelstunde. Ideal eigentlich, aber wenn in einem Zimmer vier Studenten wohnen, ist das mehr als eng. Da wir es nicht anders kannten, lebten wir es so – und es ging. Da wir zum Teil seminargruppenweise zusammen wohnten, war es besonders schwer, zeitgleich zu Vorlesungen oder Seminaren zu kommen. Jede Wohnung mit zwei oder drei Zimmern, je Zimmer vier Studenten, eine Küche, ein Bad und Toilette – das war nicht nur für die Herren kompliziert. Intimsphäre war kaum vorhanden – und aus heutiger Sicht ist diese Situation auch für mich unvorstellbar! Aber es ging! Damals!
Der Wohnheimplatz kostete zehn Mark monatlich (inklusive Bettwäsche, Reinigungsmittel, Strom, Toilettenpapier) und wurde vom Stipendium (190 Mark monatlich) gleich abgezogen. Vor ein paar Jahren unterhielt ich mich auf der Fahrt im ICE nach Berlin mit einer Jura-Studentin, die nun dort in einer dieser 2-Raum-Wohnungen zu zweit wohnte, ausgestattet mit WLAN und was man sonst heute noch so hat.
Ja, das hört sich alles sehr primitiv an, wie wir damals noch studierten, aber wir hatten viel gelernt, hatten Abwechslung und nutzten unsere Freizeit: Studentenclub und natürlich alle öffentlichen Anbieter wie die URANIA, den Kulturbund oder schlicht und einfach Theater, Kino und Kabarett. An vielen Litfaßsäulen war monatlich aktuell das tägliche Angebot angeschlagen, und man konnte sich noch kurzfristig entscheiden. Oft war ich mit Freunden auch im Studentenclub der Humboldt-Universität in der Linienstraße. Man musste zwar lange anstehen, aber es war DIE Adresse; und so mancher fand hier seine Liebe des Lebens. Auch abends fiel es uns manchmal erst um 22 Uhr noch ein, „auf ein Bier“ mit den Zimmerbewohnern in eine der nächsten Eckkneipen zu gehen. Mitternacht waren wir wieder zurück, denn um 24 Uhr war Ausschankschluss in den Gaststätten.

Heute wird viel für den internationalen Studentenaustausch geworben. Sprachen sind das A und O in der Europäischen Union (EU). Auch meine Tochter konnte in Amsterdam Geographie studieren! Ich nutzte während meines Studiums den Studentenaustausch in den Semesterferien: Gemeinsame Freizeit in den Studentenbrigaden!

Erinnerungen an die Studentenbrigade in Kasachstan (1973):
Mit Bahn und Flugzeug durch die Sowjetunion

1971 war ich beim ersten Austausch mit der Ökonomischen Hochschule in Kraków dabei. Wir pflanzten u. a. Bäume in einem Neubaugebiet, und die Bewohner sprachen uns an und sagten: „Früher kamen Deutsche und brachten uns um, und ihr seid gekommen und pflanzt uns neue Bäume!“. Noch heute bin ich freundschaftlich mit damals teilnehmenden Studenten verbunden. Wir besuchten damals mit den anderen Ökonomie-Studenten aus Polen, Bulgarien, der Slowakei und Ungarn gemeinsam auch das ehemalige KZ Auschwitz. Wir sahen gemeinsam die Räume mit Menschenhaar, Brillen, Schuhen, … und waren erschüttert. Heute werden Nazi-Kollaborateure in osteuropäischen Ländern als Nationalhelden gefeiert.
Zwei Jahre später konnte ich an der Studentenbrigade des Moskauer Plechanow-Institutes für Volkswirtschaft in Kasachstan teilnehmen, was ein ganz besonderes Erlebnis für mich war. Als ich 2007 aus diesem Dorf im Zelina („Neuland“ ) Spätaussiedler hier in Deutschland traf, schrieb ich meine persönlichen Eindrücke zu beiden Ereignissen in einem kleinen Buch „Leb‘ wohl Kasachstan“ nieder.

Nach dem Studium wurde ich in der Territorialplanung in Erfurt als „frisch gebackener“ Diplom-Wirtschaftler eingestellt und erhielt 550 Mark monatlich als Gehalt ausgezahlt. Meine Arbeit bestand darin, raumplanerisch – wie es heute heißt – Vorrausetzungen für die territoriale Entwicklung der ansässigen und neuen Industriebetriebe zu schaffen, die den DDR-Industrieministerien direkt unterstellt waren. Das waren die Kombinate und ihre Betriebe, Betriebsteile und Werke. Das Kali-Kombinat Sondershausen, das Kombinat Mikroelektronik oder die Gummiwerke Waltershausen waren einige von ihnen, wo sehr große Investitionen zu jener Zeit getätigt wurden. Dazu waren Standortbestätigungen nötig, die sicherten, dass diese Investitionen auch infrastrukturell mit Wasser, Energie, aber auch mit Arbeitskräften gesichert werden konnten.
Natürlich gab es viele Probleme und nicht alles wurde zur Zufriedenheit der Menschen gelöst. Wer begriff schon, dass die materiellen Werte erst durch eine produktive Wirtschaft erzeugt werden müssen, bevor die Konsumtionsphase erfolgen kann? Wer wollte es hören, dass der Ostblock dem Technologieembargo des Westens unterworfen war und in unserer Volkswirtschaft vieles nochmals „erfunden“ werden musste? Viele Funktionäre begriffen auch nicht, dass die Planerfüllung nicht gleichgesetzt werden konnte mit der Bedarfsdeckung! Wenn der Plan erfüllt oder gar übererfüllt wurde, war noch lange nicht der Bedarf gedeckt. Die Differenz dazwischen war die Unzufriedenheit der Menschen! Doch zu dieser Unzufriedenheit hätte man sich ehrlich bekennen müssen! Man berauschte sich lieber an Berichten und Artikeln zur Planerfüllung, statt den kritischen Bedarf unter die Lupe zu nehmen. Ja, Planwirtschaft ist nicht einfach! Oder mit B. Brecht, etwas abgewandelt: Das Einfache, das schwer zu machen ist!

Nach dem Ende der DDR bot mir eine Wirtschaftsförderungsgesellschaft eine Tätigkeit an, die ganz der hiesigen Territorialökonomie entsprach: Für Unternehmen Standort- und Infrastrukturbedingungen zu schaffen oder diese zu suchen, um Investitionen zu tätigen, Fördermittel zu erhalten und Gewinne zu erwirtschaften. Das entsprach meinem beruflichen Wissen und Können und ich arbeitete gern und viel auf kommunaler Ebene zwischen der Ostsee und den Alpen.
Nachdem sich diese Beratungsfirma internationalen Projekten zuwendete, machte ich mich selbstständig und setzte meine Tätigkeit freiberuflich in der kommunalen Wirtschaftsförderung weiter fort. Nach 10 Jahren Selbständigkeit entschloss ich mich, wohnortnah zu arbeiten und konnte meine Kenntnisse und Erfahrungen in einem IT-Unternehmen einbringen, das sich auf Systemsoftware spezialisiert hatte, wo meine Kenntnisse einfließen konnten. Hier wirkte ich bis zum Eintritt ins Rentenalter.

Mein berufliches Leben verteilte sich – zeitlich grob gerechnet – halb und halb auf beide Systeme, die Plan- und die Marktwirtschaft. Geprägt hat mich der berufliche Werdegang in der DDR! Dazu gehören auch die fundierte Ausbildung an der HfÖ und ein halbwegs kritischer Blick auf die Wirklichkeit.
Die Theorie kann man lernen, aber noch immer ist die Praxis das Kriterium der Wahrheit. Letztere ist nicht absolut(istisch). Sie, die Wahrheit, ist relativ (hatten wir ja in Philosophie gelernt) und vom jeweiligen Erkenntnisstand abhängig. Die Zukunft der gesellschaftlichen Weiterentwicklung wird zeigen, wie soziale Sicherheit der Menschen, Frieden und die Entwicklung der Produktivkräfte „unter einen Hut“ zu bringen sind.