Autor: Hans-Gerhard Träger
Prof. Dr. Hans-Gerhard Träger (Jahrgang 1923) hat von 1951 bis 1955 an der Hochschule für Planökonomie studiert und nach 1965 viele Jahre an der HfÖ gearbeitet. Er erinnert sich an sein Leben in und mit der Hochschule.
Nach der Vereinigung 1948/49 führte die SED, meine Partei, Anfang 1950 Gespräche mit allen Mitgliedern. Das Gespräch mit mir erfolgte im Rahmen der Betriebsparteiorganisation im Ministerium für Handel und Versorgung und endete mit dem Ergebnis: „Genosse Träger, Du hast Dir in den vergangenen Jahren umfangreiche Kenntnisse in der Praxis angeeignet – Du wirst ab Herbst dieses Jahres für vier Jahre studieren, und zwar an einer neuen Hochschule“ – er schaute nochmals in seine Unterlagen – „für Planökonomie in Karlshorst“.
Mir schlug das Herz höher, denn ich hatte in meiner Funktion als stellvertretender Hauptabteilungsleiter festgestellt, dass ich teilweise nicht ausreichende Fachkenntnisse besaß. Ich hatte schon erwogen, mich deshalb von dieser Funktion entbinden zu lassen.
Seit diesem Zeitpunkt hat die Hochschule für Ökonomie mein ganzes Berufsleben geprägt. Diese Erinnerungen sind deshalb auch ein Ausdruck des Dankes an alle, die an der Errichtung dieser Hochschule beteiligt waren und an die DDR, die diese Entwicklung ermöglicht hat.
Im Herbst des Jahres 1951 meldete ich mich in der Hochschule in Karlshorst an. Das Hauptgebäude bestand aus zwei ehemals separaten Schulgebäuden, wovon die zwei nebeneinanderliegenden Treppenfluchten zeugten (Die Schaffner der vor dem Haus haltenden Straßenbahn riefen noch längere Zeit die Haltestelle mit „Mädchenlyzeum“ aus). Das Gebäude wurde während des Krieges wenig beschädigt bzw. schon wieder renoviert.
Ich erhielt als Schwerbeschädigter ein Einzelzimmer im Erdgeschoß in einem neuen Internat, dessen Bau erst im Jahr zuvor beschlossen worden war. Als ich ankam, traf ich einen kleinen Steppke, der auf seinem Dreirad durch die langen Flure fuhr. Seine Oma erschien. Sie und ihr Mann waren die Hauseltern und wohnten neben meinem Zimmer. Ihr Name: Frieda und Robert Coppi. Sie waren die Großeltern des kleinen Hans auf dem Dreirad, dessen Eltern – Hans und Hilde Coppi – als Widerstandskämpfer von den Nazis ermordet worden waren.
Im Verlauf der Studienzeit erwiesen sie sich als warmherzige, aber – wenn es sein musste – auch als konsequente Hauseltern. Zwischen ihnen und mir – und später auch meiner Freundin Lisbeth – entwickelte sich eine herzliche Freundschaft, die bis weit über das Studium hinaus andauerte. Nach und nach lernte ich meine Mitstudentinnen und Mitstudenten kennen – wir waren das zweite Immatrikulationsjahr an der Hochschule. Die Neuen boten ein buntes Bild – viele hatten Abitur, aber auch im Beruf Gestandene und schließlich „alte Register“ wie ich mit 28 Jahren, die zum Teil schon Erfahrungen aus leitenden Tätigkeiten mitbrachten, gehörten dazu.
Dem Kennenlernen diente auch die erste Versammlung der FDJ-Gruppe, auf der ich in den Jugendverband aufgenommen wurde, obwohl ich das Eintrittsalter schon überschritten hatte. Ich habe mich in dieser Gemeinschaft sehr wohl gefühlt.
Das Studium begann mit einem Begrüßungs- und Einführungstreffen als Festakt in der Aula des Hauptgebäudes. Wir lernten die Rektorin, Genossin Dr. hc. Eva Altmann, kennen. Es war bewegend, wie sie in verhaltenem Ton, aber inhaltlich überzeugend, Ziele und Aufgaben der neuen Hochschule uns Studierenden näherbrachte: mit dem Wissen und den Erkenntnissen des Studiums die Wirtschaftspraxis tatkräftig unterstützen und voranbringen. Das war unser Auftrag.
1973: Die (Ex-)Rektoren der HfÖ gratulieren Frau Prof. Eva Altmann zu ihrem 70. Geburtstag (maier)
Von rechts:
Prof. Dr. Eva Altmann (Rektorin von 1950 bis 1956),
Prof. Dr. Alfred Lemnitz (1956 bis 1958),
Prof. Dr. Johannes Rössler (1958 bis 1963),
Prof. Dr. Alfred Lange (1963 bis 1969),
Prof. Dr, Günther Lingott (1969 bis 1972),
Prof. Dr. Walter Kupferschmidt (1972 bis 1979).
Sie verwies aber auch auf die durch Staat und Partei geschaffenen ausgezeichneten Studienbedingungen, die alle Voraussetzungen boten, sich mit ganzer Kraft dem Lernen zu widmen. Eine unterschwellige Warnung war dabei nicht zu überhören, denn einige Zeit später brachte ein Assistent am „Schwarzen Brett“ eine Erklärung an: Wer sich während des Studiums Kinder anschafft, habe ein mangelndes Staatsbewusstsein. Das löste einen Sturm der Empörung aus. Diese Erklärung musste wieder entfernt werden. Ich erhielt den Auftrag, im Namen der Studentenschaft bei der Rektorin Einspruch einzulegen.
Es war ein angeregtes Gespräch, in dem ich sie darauf aufmerksam machte, dass unter den Studentinnen und Studenten des neuen Jahrgangs bereits Mütter mit Kindern und auch Familienväter waren. Genossin Eva Altmann legte dar, welche Probleme sie in dieser Hinsicht in den Jahren der Emigration bewegt hatten. Ich versuchte sie zu überzeugen, der Realität ins Auge zu sehen und ihrem hohen Ansehen unter den Studenten keinen Schaden zuzufügen. Nicht lange danach wurden ein Säuglingsheim und ein Kindergarten in unmittelbarer Nähe der Hochschule eingerichtet.
Im Zuge der gegenseitigen Annäherung zwischen Rektorin und Studentenschaft gab es zwei weitere „Berührungspunkte“: Zum einen betraf das ihre Festlegung, dass alle Studierenden ab 22 Uhr im Haus zu sein haben – für mich eine missliche Erinnerung an meine Zeit bei der Wehrmacht und für Jüngere eine Maßregelung. Diese Festlegung wurde bald abgeschafft.
Eine zweite Entscheidung hielt sich länger: Kollektives Selbststudium. Sicher stand dahinter die Absicht, das Lernen und Studieren zu unterstützen. Die Realität sprach jedoch dagegen. Die „Lerngewohnheiten“ junger Menschen – älterer auch – sind verschieden. Trotz Führung von Listen der „Störer“ trat völlige Ruhe kaum ein. Es war insbesondere für mich ein Problem, weil ich noch an den Folgen meiner Kriegsverletzungen zu leiden hatte und nicht lange auf den harten Stühlen des Seminarraumes sitzen konnte. Ich erhielt die Genehmigung, an dieser Form des Studiums nicht mehr teilnehmen zu müssen.
Aus heutiger Sicht betrachtet waren die Studienbedingungen hervorragend, das betrifft die materielle Sicherung durch das Stipendium, die kostenlose Unterbringung im neuen Internat, die Bereitstellung von drei Mahlzeiten durch eine ausgezeichnete Küche, kostenloser Zugang zu Bibliotheken und ärztliche Betreuung.
Dem gegenüber stand ein Lehrprogramm, das an jeden von uns höchste Anforderungen stellte. Die Seminargruppen standen im Wettbewerb um beste Studienergebnisse. Sie organisierten ihre Arbeit nach der Devise: „Keinen zurücklassen!“ Kritik und Selbstkritik spielten eine große Rolle, aber auch Hilfe und Unterstützung. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang eines Studienfreundes, der gute Noten hatte, aber mit der englischen Sprache auf Kriegsfuß stand. Es war üblich, nach jedem Semester umfassende mündliche und schriftliche Prüfungen des absolvierten Lehrstoffes durchzuführen mit der Konsequenz, dass bei einer Fünf das Studium abgebrochen werden musste. Was haben wir mit ihm geprobt, erläutert und immer wieder geübt! Und was war es für eine Freude, als er noch mit Vier die Prüfung bestand und sein Studium fortsetzen konnte. Diese harten Prüfungen hatten den Vorteil, dass das Staatsexamen seinen Schrecken etwas verlor.
Hartes Studium – fröhliches Jugendleben: Beides gehörte zusammen. Das tägliche konzentrierte Studium forderte von Zeit zu Zeit Auflockerung. Im großen Saal der Mensa und später auch im Club, den die Studenten in leerstehenden Räumen im Hauptgebäude in ihrer Freizeit ausgebaut hatten, fanden Tanzveranstaltungen und Zusammenkünfte statt. Musikalisch versierte Studenten hatten ein Trio gegründet, das zum Tanz aufspielte. Die Veranstaltungen waren immer gut besucht.
Ein Höhepunkt war jedes Jahr der Fasching an der Hochschule – eine „Berliner Adresse“. Talente unter den Studenten sorgten für eine fröhliche Atmosphäre und der Rektor hielt die Büttenrede. Der Fasching an der HfÖ ist heute noch legendär: Kürzlich war ich in Karlshorst mit einem Taxi unterwegs. Der Fahrer wunderte sich über meine präzisen Ortskenntnisse, und ich sagte ihm, dass ich in der HfÖ studiert habe. „Ja, da war ich einmal zum Fasching! Ich war glücklich, dass ich eine Karte ergattern konnte“, meinte er.
Im Rahmen der FDJ-Arbeit wurde ein Chor gegründet. Wir konnten den Nestor des Volksliedes in der DDR, Fritz Höft, als Leiter gewinnen. Im Laufe der Zeit bildete sich ein Ensemble aus Chor, Orchester und Tanzgruppe und „Satko“ (satirisches Kollektiv) heraus. Ich trat dem Chor bei, wenn auch nicht als großer Sänger – Füllstimmen werden immer gebraucht. Das Leben im und mit dem Chor war eine Bereicherung des Studiums. In den großen Semesterferien waren 10 bis 12 Tage Fahrt zu Auftritten bei der Nationalen Volksarmee im Norden der Republik eingeplant. Wir beteiligten uns am Republikwettbewerb von Chören und Ensembles für die Teilnahme an den Weltfestspielen in Warschau. Und es geschah: Wir siegten und hatten die Fahrkarten für Warschau gelöst!
Die Einstudierung des Programms für Warschau kreuzte sich zeitlich mit den Vorbereitungen auf das Staatsexamen. Doch das Examen wurde gut geschafft. Bei den Einsatzgesprächen der Absolventen erhielt ich einen Arbeitsplatz im Ministerium für Außenhandel, später Ministerium für Außen- und Innerdeutschen Handel).
Vorher standen aber die Weltfestspiele in Warschau auf dem Programm. Ein überwältigendes Ereignis. Für mich als 32-Jährigen war es der krönende Abschluss meines Studiums und meiner Mitgliedschaft in der FDJ.
Dazu gehörte die Vereinbarung zwischen Lisbeth und mir, unmittelbar nach dem Examen zu heiraten, nachdem wir schon mehrere Hochzeitstermine absagen mussten, weil etwas Dienstliches dazwischen kam.
Auf der Rückfahrt aus Warschau wurden wir informiert, dass das Programm der deutschen Jugend wegen seines Erfolges an einem Sonnabend in Berlin wiederholt werden sollte. Wieder das gleiche Schicksal für unsere Heirat? Just an diesem Tag sollte der Polterabend sein. Das Problem wurde salomonisch gelöst: Wir bekamen Karten für unsere Gäste, unsere Eltern. Polterabend passé.
Ab Herbst 1955 begann meine Arbeit in der Praxis. Sie umfasste bis 1965 die unterschiedlichsten Tätigkeitsbereiche im Inland und im westlichen Ausland. Ich führte z.B. 1965 mit Finnland – einziger kapitalistischer europäischer Staat, der die DDR de facto anerkannte – Gespräche über ein Drei-Jahres-Handelsabkommen. Ich ahnte da noch nicht, dass diese meine letzten Aktivitäten in der Wirtschaftspraxis waren. Es wurde festgestellt, dass in der Fakultät Außenhandel der HfÖ zu wenig Mitarbeiter mit Praxiserfahrung tätig waren. Zentrale Entscheidung: Fünf leitende Mitarbeiter des Außenhandels wechseln zur Hochschule! Und – was soll ich sagen: Ich war dabei!
Mein neuer Arbeitgeber: Hochschule für Ökonomie! Das war eine Freude! Einerseits war ich wieder an der Hochschule, zu der ich in all den Jahren den Kontakt nicht verloren hatte. Andererseits konnte ich mich jetzt mehr meiner Familie widmen, denn die permanente Reisetätigkeit hatte dazu geführt, dass meine Kinder in mir den „guten Onkel“ sahen, der ihnen ab und zu etwas mitbrachte.
Die Hochschule hatte sich in den zehn Jahren weiterentwickelt. Alte Studienfreunde hatten inzwischen promoviert und nahmen wichtige Funktionen ein. Nach der Wiedersehensfreude kam nun die Arbeit. Auf mich wartete die Übernahme der Hauptvorlesung, ich wurde Mentor einer Seminargruppe und musste mich verpflichten, in drei Jahren zu promovieren. Eine besonders schwere Aufgabe, da ich in den zehn Jahren Praxis kaum Gelegenheit für wissenschaftliche Arbeit hatte und nun viel nachholen mußte. Meine Hauptaufgabe bestand jedoch darin, meine Erfahrungen aus der Praxis auszuwerten und diese bei der Lehre und Erziehung der Studenten einzusetzen.
Den engsten Kontakt hatte ich mit der Seminargruppe AW 65, bei der ich Mentor war. Die Studenten hatten die richtige Einstellung zum Studium, was sich auch zeigte, als sie als Gruppe den Titel „Sozialistisches Studentenkollektiv“ im Rahmen der Hochschule errangen. Als ich mit ihnen im vorigen Jahr „50 Jahre Diplom“ feierte, erinnerte ein altes Foto an diesen Wettbewerb.
Zur „Illustration des Lehrstoffes“ führte ich im Studentenklub DIA-Vorträge durch, in denen ich über Land und Leute, Sitten und Gebräuche der Partnerländer informierte. Im Zuge der wachsenden internationalen Anerkennung der DDR wurde das „Diplomatische Protokoll“ ein wichtiger Bestandteil dieser Veranstaltungen, einschließlich der Frage: „Wie esse ich eine Artischocke?“ Schließlich war es erforderlich, wichtige Einzelheiten der „Wiener Diplomatenkonvention der UNO“ bekannt zu machen.
1973 wurde ich zum Parteisekretär der Hochschule vorgeschlagen und gewählt – eine neue Aufgabe in meiner Beziehung zur Hochschule für Ökonomie, die 1972 den Ehrennamen „Bruno Leuschner“ verliehen bekommen hatte.
Die Parteiorganisation der Hochschule umfasste damals ca. 3000 Genossinnen und Genossen und war wohl eine der größten der Hauptstadt. 1974 wurde ich Mitglied der Kreisleitung Lichtenberg. Rückblickend schätze ich ein, dass es für mich eine gute Schule für den Umgang mit Menschen war. Ich lernte, dass man den Weg zum Denken und Fühlen jedes Einzelnen suchen muss und nicht mit stereotypen Losungen und Sprüchen agitieren kann. Diese Erkenntnis hat mir bei meiner Arbeit nachhaltig geholfen.
1978 erfolgte – turnusgemäß nach fünf Jahren – meine Ablösung.
Eine völlig neue Aufgabe wartete nun auf mich. Ein Mangel hatte sich in den damaligen Exportverhandlungen gezeigt: Die Spezialisten für das Technisch-Fachliche hatten keine Ausbildung in ökonomischen Fragen und somit konnten sie eine Vertragsverhandlung nicht von Anfang bis Ende durchführen. Deshalb wurde beschlossen, an den Hochschulen Institute anzusiedeln, die diese Fähigkeiten vermitteln sollten. So entstand das Außenhandelsinstitut mit gestandenen Praktikern als Studenten, die sich in zwei Jahren die erforderlichen Kenntnisse mit viel Motivation und Einsatzbereitschaft aneigneten.
2019: Prof. Träger (vorne rechts) beim Absolvententreffen der Seminargruppe AHI 82 in Bad Frankenhausen (lehmann)
Ich wurde Direktor dieses Instituts. Diese Aufgabe war mir direkt auf den Leib geschrieben. Ich hielt die Hauptvorlesung, und meine Kolleginnen und Kollegen aus der Fakultät Außenhandel und den anderen Fachbereichen (einschließlich Fremdsprachen und kaufmännisches Rechnen) unterstützten uns bei der Erweiterung der Kenntnisse der Praktiker auf dem Gebiet der Außenhandelspraxis. Noch heute habe ich enge Verbindungen zu ehemaligen Studentinnen und Studenten dieses Institutes.
Die Hochschule für Ökonomie besteht nicht mehr. Aber in unserem Denken und Fühlen lebt sie fort. In diesem Sinne begehen wir den 70. Jahrestag ihrer Gründung am 4. Oktober 1950.
Diese Lebenserinnerungen von Prof. Träger erscheinen im Oktoberheft der Zeitschrift RotFuchs. Wir bedanken uns bei der Redaktion für die Genehmigung zum Vorabdruck.