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Die Jugend der Welt traf sich an der Hochschule für Ökonomie

Autor: Tanju Tügel

Dr. Tanju Tügel hat an der Hochschule für Ökonomie studiert (PÖ 81/2) und promoviert (1989). Mit Dankbarkeit erinnert er sich an die Jahre an der HfÖ.

Wer hat die Eltern von Tamara Bunke, der Weggefährtin Ches, auf einer lateinamerikanischen Feier im Studentenclub kennenlernen dürfen? Wer kennt die Freude, als eine Gruppe von Jugendlichen der sandinistischen Revolution in Nicaragua in der DDR ankam? Wer kann bei ungarischen Volkstänzen richtig im Takt klatschen, also nicht wie in Deutschland üblich bei eins und drei? Wer kennt die „personifizierte Revolution“ Jaime aus Peru, der seine Beiträge, egal zu welchem Thema, immer mit „Venceremos“ beendete? Wer durfte den unglaublichen Optimismus von Dang bezüglich der Zukunft Vietnams kennenlernen, das von den Napalmbomben der US-Armee verbrannt worden war? Wessen langjähriger Betreuer, Freund und Doktorvater hatte nach dem Krieg als Partisan in Griechenland gekämpft? Wer hatte das Privileg, mit Jugendlichen aus 40, 50 und mehr Staaten gemeinsam zu lernen, zu wohnen, zu leben und zu feiern?
Ich habe das erlebt, an der Hochschule für Ökonomie „Bruno Leuschner“, wo im September 1981 mein zweites Leben begann.
Ich kam als Parteidelegierter der Kommunistischen Partei der Türkei, als überzeugter junger Kommunist, zum Studium. Deutsch hatte ich bereits in der Türkei auf dem Gymnasium gelernt. Die einjährige Sprachausbildung (in der Regel am Herder-Institut an der Karl-Marx-Universität in Leipzig) brauchte ich nicht. Deshalb hieß von Beginn an die Adresse meiner Wahlheimat Hermann-Duncker-Straße 8. (Ich wohne heute wieder etwa 1600 Schritte entfernt von diesem Ort.)
Eine eindeutige und unstrittige statistische Gesamtdarstellung zur Anzahl der ausländischen Studierenden in der DDR und zu den jährlichen Veränderungen steht bisher noch aus. „Der erste aktenkundig gewordene Auslandsstudent der DDR kam aus dem Land „562“ und studierte 1946 Medizin an der Universität Leipzig. (Es ist anzunehmen, dass 562 Französisch-Indochina bezeichnet.)“, schreibt der Historiker Damian Mac Con Uladh in seinem Aufsatz „Studium bei Freunden? Ausländische Studierende in der DDR bis 1970“. Und weiter: „Man kann davon ausgehen, dass in der Zeit von 1951 bis 1989 zwischen 64.000 und 78.400 ausländische Studierende aus über 125 verschiedenen Staaten an akademischen Bildungseinrichtungen der DDR einen Abschluss erwarben und damit bis zu drei Prozent aller Hochschulabsolventen in diesem Zeitraum stellten.“
Das ist eine grandiose internationalistische Solidaritätsleistung der DDR. Vor allem die Ausbildung von Jugendlichen aus den „jungen Nationalstaaten“ oder aus sogenannten Entwicklungsländern war die nachhaltigste Unterstützung.
„Ausländische Studierende kamen größtenteils aufgrund bilateraler staatlicher Abkommen und Vereinbarungen zwischen den gesellschaftlichen Organisationen – Parteien, Gewerkschaften und Jugendverbänden – in die DDR. Zudem war es möglich, durch internationale Organisationen, z. B. die Internationale Studenten-Union oder die UNESCO, ein Hochschulstipendium zu erhalten. Unter den „sozialistischen Bruderländern“ wurden die Studienplätze gegenseitig kostenlos zur Verfügung gestellt. Für die sogenannten Entwicklungsländer wurden die Kosten z. B. für Stipendien, Wohnheimplätze und Mensaverpflegung weitestgehend durch die DDR übernommen.“ (R. Einax: „Im Dienste außenpolitischer Interessen. Ausländische Studierende in der DDR am Beispiel Jenas“)
Nach den Unterlagen, die für mich zugänglich waren, begann das Ausländerstudium an der HfÖ im Jahr 1957. Bis 1984 wurden an der HfÖ insgesamt Studierende aus 89 Staaten (34 afrikanische, 24 asiatische, 16 nord-, mittel-, südamerikanische und 15 europäische Staaten) ausgebildet. Das ist eine gigantische Leistung, wenn man die damalige Zahl der Staaten (circa 170) berücksichtigt.
Die ausländischen Studierenden an der HfÖ hatten grundsätzlich die gleichen Studienpläne, Wohn- und Lebensbedingungen wie ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen aus der DDR. Sie waren in die Seminargruppen eingegliedert. Einige wenige Fächer, z. B. Philosophie, wissenschaftlicher Kommunismus, wurde für die Studierenden aus den kapitalistischen Staaten und sogenannten Entwicklungsländern in Extragruppen gelehrt.
Die Unterbringung war in den Internaten. Wenn die Heimatländer es nicht anders geregelt hatten, gab es 330 Mark Stipendium. Wie bei den DDR-Studierenden gab es auch für die ausländischen Studierenden und Aspiranten Leistungsstipendien. Mit dem Salvador-Allende-Stipendium konnten jährlich 50 Studenten und Aspiranten anderer Staaten ausgezeichnet werden, die an Universitäten, Hoch- und Fachschulen der DDR studierten und deren Studium von der DDR finanziert wurde. Die Höhe des Stipendiums betrug 500 Mark für Studenten und 600 Mark für Aspiranten.
Bei der Verpflegung hatten die ausländischen Studierenden an der HfÖ das große Privileg Zutritt in die „kleine Mensa“ zu haben.
Der Ernteeinsatz im ersten Studienjahr war ein schönes Erlebnis und ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Seminargruppe als Kollektiv. Strategisch „sensible“ Bereiche wie Zivilverteidigung oder Rechenzentrum waren für die ausländischen Studierenden allerdings Tabu. Obwohl in einer Analyse der Arbeit im Bereich des Ausländerstudiums an Hoch- und Fachschulen der DDR im Studienjahr 1968/69 folgendes festgestellt wurde: „Entsprechend unterstützten den Berichten zufolge auch ausländische Studenten an der HfÖ die DDR „in einer solchen aktiven begeisternden Weise, wie sie selbst von vielen DDR-Studenten nicht bekannt ist und [sie] betrachten die DDR als Vorbild“.
Das Zusammenleben innerhalb der Seminargruppe hatte einen hohen Stellenwert. „Deshalb fördert die Hochschule für Ökonomie „Bruno Leuschner“ jegliche Aktivität, die zu einer schnelleren Integration der ausländischen Studierenden in die Seminargruppen führt“ heißt es in einem Papier vom Direktorat für Internationale Beziehungen aus dem Jahre 1981.
Neben der staatlichen Seite gab es das Internationale Studentenkomitee (ISK), dem fast alle ausländischen Studierenden, Aspiranten und Aspirantinnen angehörten. Die Zusammenarbeit des ISK mit der FDJ war sehr eng. Ich war mehrere Jahre aktiv im ISK tätig, darunter auch als Vorsitzender. Wir organisierten mit Unterstützung der Hochschulleitung und der FDJ Arbeitseinsätze (Subbotniks) für die Solidarität mit Nicaragua, Blutspende-Aktionen für Palästina, Begegnungen mit Parteigruppen der SED zum Beispiel in Weißensee.

1984: Treffen der Hochschulleitung und der HSGL der FDJ mit Vertretern des Internationalen Studentenkomitees (tügel)

Von links nach rechts::
Prof. Dr. Klaus Gürmann, Vorsitzender der Ausländerkommission,
Dr. Eberhard Merten, Direktor für Internationale Beziehungen,
George aus Liberia,
Fernando da Cruz aus Angola,
Tanju aus der Türkei,
Prof. Dr. Rolf Sieber, Rektor von 1979 bis 1988,
Jesus Faria aus Venezuela (verdeckt),
Kerstin Krüger, Vertreterin der FDJ im ISK,
Ali aus Bahrein,
Karin Kähler, 1. Sekretärin der HSGL der FDJ.

Länderabende im Studentenclub, bei denen Musik und kulturelle Traditionen eines Landes oder einer Region vorgestellt und gemeinsam gesungen, gegessen, getrunken und getanzt wurde, waren immer überfüllt. Die Grundschritte ungarischer oder bulgarischer Volkstänze und Guantanamera beherrschten wir nach einer gewissen Zeit im Schlaf.
Studienstoffe haben wir natürlich auch gelernt. Und das nicht ohne Erfolg. In meinem Abschlussjahr waren zwei der drei ausgezeichneten Absolventinnen und Absolventen ausländische Studierende.
Die acht Jahre als Student, Aspirant und wissenschaftlicher Assistent an der HfÖ haben mein weiteres Leben sehr nachhaltig bestimmt. Meine Familie ist unmittelbar durch mein Leben an der HfÖ entstanden. Meine Partnerin und ich haben uns in der Zusammenarbeit von ISK und FDJ kennengelernt. Auch nach 1990 blieb ich immer mit Absolventen und ehemaligen Angehörigen der HfÖ in Verbindung. Mit meinem Freund, Betreuer und Doktorvater Dr. Panajotis Aleku hatte ich bis zu seinem Tod engen Kontakt. Noch heute habe ich Ehrfurcht, wenn ich meinem damaligen großen Chef – Prof. Günther Hoell – treffe. Und ich freue mich immer, wenn ich Prof. Erika Maier, die bei ihrer Berufung die jüngste Professorin der DDR war, wieder mal auf einer Demo oder Kundgebung begrüßen kann.
„Was, in der DDR gab es so was auch?“ ist in der Regel die Reaktion der Leute, wenn sie von mir erfahren, dass ich ab 1981 in der DDR gelebt habe. Meine Standardantwort lautet: „Ja, in der DDR gab es viel mehr, als allgemein bekannt ist.“