Autorin: Heidemarie Klingbeil
Prof. Dr. Heidemarie Klingbeil wurde 1963 in der Fachrichtung Außenwirtschaft immatrikuliert. Nach dem Studium hat sie an der HfÖ auf dem Gebiet der Politischen Ökonomie gelehrt und geforscht. Mit 46 Jahren hat sie Portugiesisch gelernt, um – wie viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unserer Hochschule bereits vor ihr – am Karl-Marx-Institut in Luanda an der Ausbildung angolanischer Studierender mitzuwirken.
Professora Heidemarie, bom dia, gostaria de falar consigo …
… so lautete monatlich die immer vornehm hochportugiesisch formulierte Einladung zum Gespräch von Senhor Director Bastus am Instituto Médio Karl Marx – A. S. Makarenko em Luanda (KMI). Stunden-, Raum- und Lehrplanung, Leistungen der Studenten und leider auch immer wieder „Abgänge“ aus den Seminargruppen wurden besprochen.
Von Oktober 1987 bis Juni 1988 arbeitete ich am KMI als Dozentin für Politische Ökonomie des Kapitalismus und war gleichzeitig Leiterin der DDR-Dozentengruppe: Kollegen aus Leipzig, Merseburg, Dresden, Erfurt, Gera und Plauen, die z. B. Leitungswissenschaft und Planung, Informatik, Mathematik und Statistik, Wissenschaftlichen Kommunismus, Betriebswirtschaft etc. lehrten. Und das mit großem Engagement und Optimismus unter besonders schwierigen Bedingungen: in Angola war Krieg.
Von Januar bis März 1988 fand die entscheidende Schlacht zwischen den Regierungstruppen der MPLA und den Rebellen der UNITÁ bei Cuito Cuanavale statt – die größte auf dem afrikanischen Kontinent nach dem Zweiten Weltkrieg. Das hatte direkte Auswirkungen auf das KMI und uns. Viele junge Männer meldeten sich freiwillig oder wurden rekrutiert, oft mitten aus dem Unterricht geholt. Ein für mich unvergesslich schmerzliches Erlebnis: Nur einer von 18 Studenten aus einer meiner Seminargruppen war aus dem Kampfeinsatz zurück gekommen: Quisselo stand Ende Mai plötzlich mitten im Hof, auf dem Weg zum Seminarraum … für einen Moment war es unglaublich still im gesamten Gelände … dann stürmten die Studenten aus allen Räumen auf ihn los, ein unbeschreiblicher, tränenreicher Jubel brach los … an Unterricht war nicht mehr zu denken!
Wir unterrichteten in zwei Schichten, vormittags und nachmittags. Zwei Kollegen teilten sich ein Auto. Der eine kam, der andere fuhr zum Unterricht. Öffentliche Verkehrsmittel waren für uns tabu.
Außer der Aula für besondere Anlässe und drei Seminarräumen im Hauptgebäude (aus Stein!) standen Blechhütten mit kleinen Lamellenschlitzfenstern, ausgestattet mit Blechmobiliar, für jeweils ca. 30 Studenten zur Verfügung. Die brennende Sonne auf den Dächern, die ständig schwüle Hitze im Raum (mehr als 30 Grad) hatten wir umsonst. Wie froh war jeder, wenn ihm zeitweise ein Raum im Hauptgebäude oder wenigstens die Hütte unter der großen schattenspenden Akazie zugewiesen wurde… von Senhor Bastus.
Manchmal erschien es unmöglich, unter diesen Bedingungen ein ordentliches Seminar zu gestalten, zumal es auch immer wieder an Papier, Schreibgerät, Folien, Kreide etc. mangelte. Es kam auch vor, dass ein Student oder eine Studentin in der ersten Stunde einfach mal „wegsackte“. Nicht Langeweile oder gar Respektlosigkeit waren der Grund, sondern schlichtweg Übermüdung. Die-/derjenige hatte vor Unterrichtsbeginn schon die Familie mit Wasser – von weit hergeholt – versorgt und war danach ca. 10 km und mehr zum Institut gelaufen!!
Und doch! Alle Mühen waren, bis auf wenige Ausnahmen, letztlich erfolgreich. Vor allem wegen der lernbegierigen, sehr motivierten Studenten. Allen galt es als große Chance und Auszeichnung, am KMI studieren zu dürfen und von DDR-Dozenten unterrichtet zu werden. Umso mehr strengten sie sich an.
Wir Dozenten indes lernten sehr schnell, kreativ, flexibel und erfinderisch notwendige Materialien zu organisieren, sei es Papier, Druckertinte, Schreibutensilien oder z. B. Kopier- und Druckmöglichkeiten auf Hinterhöfen auszukundschaften. Noch besser … ein guter „Draht“ zu befreundeten angolanischen Büroangestellten, um hin und wieder deren Geräte nutzen zu können. So konnten wir notwendige Lehr-, Anschauungs- und Prüfungsmaterialien für unsere Studenten erarbeiten, möglichst auf Vorrat.
Erholsame und fröhliche Freizeit gab es auch, allerdings geprägt von vielen Restriktionen: Aufenthaltsverbot an südlichen Strandabschnitten, in allen Außenbezirken von Luanda (UNITÁ-Gebiet) sowie für den Großmarkt „Kixix“. Ausgangssperre ab ca. 22:00 Uhr, ab 21:00 Uhr allerdings schon in unserer Wohngegend am Hafen (wegen der ständigen Schießereien). Hinzu kam, dass es häufig nur stundenweise Wasser, Strom oder Gas gab. Pech, wenn man dann nicht zu Hause war, um Wasser zu horten. Glück, wenn man gute Nachbarn hatte wie wir, nämlich unsere Fausta da Silva mit ihren vier Kindern. Sie drehte alle Hähne auch in unserer Wohnung auf und füllte alle Kanister und die Badewanne bis zum Rand.
All das war „vergessen“, sonntags, beim Schwimmen inmitten großer Schwärme bunter Fische vor der traumhaften, Luanda vorgelagerten, Insel „Mussulo“, beim Volleyball und Fischgrillen am Strand und allemal auch bei den fröhlichen Festen mit unseren Studenten. Angolanische Musik reißt auch den stursten Tanzmuffel vom Hocker.
Eine Kluft zwischen uns und den Studenten wurde allerdings nie beseitigt: Die grundverschiedene Auffassung von Pünktlichkeit bei Festen (nicht im Lehrbetrieb!): für 19:00 Uhr eingeladen, stand man zumeist bis gegen 20:30 Uhr dumm rum. Bestenfalls war der Organisator des Festes gegen 20:00 Uhr da. Passiert einem nur zweimal.
Ab August 1988 wurde ich an die Universidade Agostinho Neto in Luanda als Beraterin des Rectors angefordert, um bei der Umstrukturierung der Lehre zu helfen. Außerdem hatte ich auch da eigene Studenten und lehrte „Ökonomische Grundlagen des Kapitalismus und Imperialismustheorie“.
Als Beraterin stand ich vor der schwierigen Aufgabe, das bisherige, noch aus Portugal übernommene Lehr- und Prüfungssystem im Fach Ökonomie zu erfassen und Vorschläge für Veränderungen und die Neuentwicklung von Studiengängen zu liefern. Nur ein Beispiel: Studenten verloren wegen nicht abgelegter Prüfungen am Semesterende oft ein oder sogar zwei Studienjahre, denn das Prüfungsregime legte fest, dass sie nur bei ihrem Professor die Prüfung ablegen durften. War der aus irgendwelchen Gründen verhindert oder gar nicht mehr an der Universität, mussten sie das ganze Jahr bei einem anderen Professor wiederholen, in der Hoffnung, dass es bei dem klappen würde.
Dass dieses Prüfungssystem wenig später auch meine Studenten treffen sollte, konnte ich da noch nicht ahnen. Aber wir haben das hingekriegt! Wir… das waren die anderen Dozenten unserer internationalen Beratergruppe: Prof. Bá aus Vietnam; Alexei und Vladimir aus der Ukraine; Kirill aus Georgien und Filippe Amado aus Portugal. Sie waren als Berater für die Reformierung anderer Studienrichtungen, z. B. Philosophie, Betriebswirtschaft, Informatik, Ingenieurwesen tätig.
An der Uni herrschten die gleichen misslichen Umstände und Mängel wie am KMI. Unsere Beratergruppe funktionierte von Anfang an toll. Jeder half jedem. Gab es mal gute Zeiten, organisierten alle für alle sämtliche Materialien, die wir brauchten. So konnte ich vier Lehrbriefe, Vorbereitungsbögen und Prüfungsfragen sowie Hinweise zum Prüfungsablauf verfassen. Vladimir bewahrte alles sorgsam auf. Ein Glück für meine Studenten!
Mich erwischte die lebensgefährliche Malaria vivax und ich wurde Ende Juni 1989 – vor Prüfungsbeginn! – nach Hause ausgeflogen. In der Tropenklinik Berlin-Buch hat man mich wieder hergestellt.
Am 14. Juli 1989 erreichte mich ein langer, herzlicher Brief von Kirill, Alexei und Vladimir im Krankenhaus (ich habe ihn noch) mit der Nachricht, dass bis auf vier alle meine Studenten die Prüfung erfolgreich bestanden hatten. Zugegeben … es war nicht ganz regelkonform. Als es mir schon schlecht ging, hatte ich die Prüfungsbogen für meine Seminargruppe schon vorab blanko unterschrieben. Vladimir und Alexei hatten nach meinen Vorgaben die Prüfungen abgenommen. Ihre ohnehin notwendige Zweitunterschrift wurde anerkannt und die Studenten konnten ins nächste Studienjahr starten. Uff… welch eine Erleichterung.
Fazit:
Es war eine zum Teil schwere, sehr anstrengende Zeit in Luanda. Aber noch mehr war es eine große Bereicherung meines Lebens.
Menschlich machte ich durchweg gute Erfahrungen mit wissbegierigen, sehr respektvollen, fröhlichen und warmherzigen Studenten, Kollegen, angolanischen Freunden und benachbarten Familien. Noch bis 1992 hatte ich regen Briefwechsel mit den Beraterkollegen, vor allem mit Kirill sowie mit unserer Nachbarin Fausta, die über ihre Kinder berichtete und mir die Neuigkeiten des ganzen Wohnblocks und die neuen Folgen der laufenden brasilianischen Telenovela mitteilte.
Fachlich war es eine Horizonterweiterung in ökonomischen Ansichten und anderen Wissensgebieten durch die internationale Kollegentruppe. Manchmal überraschende Erfahrungen in differenzierter Diskussionskultur und Toleranz in Streitgesprächen. Erfrischend weg vom deutschen (oft belehrenden) Blickwinkel auf die Dinge, hin zu einem anderen, sozusagen angolanischen Blick und Verständnis für die Verhältnisse.
Mein Vertrag an der Uni wäre noch um vier Jahre verlängert worden. Ich wäre gern geblieben. Meine Gesundheitssituation und schließlich auch die politischen Umbrüche in der DDR und in Angola machten es unmöglich.