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Festrede zum 70.

Autor: Ekkehard Sachse

Prof. Dr. Ekkehard Sachse (Jahrgang 1927) gehörte im Jahre 1950 zum Kernsemester der neu gegründeten Hochschule für Planökonomie und war von 1953 bis 1991 beruflich an unserer Alma Mater tätig – vor allem auf dem Gebiet der Arbeitsökonomie. Als Zeitzeuge hat er eine Rede vorbereitet, die bei dem ursprünglich am 24.10.2020 geplanten HfÖ-Treffen gehalten werden sollte, und zugestimmt, dass wir sie im Vorfeld des diesjährigen 70. Jahrestages der HfÖ-Gründung auf unserer Webseite veröffentlichen.

Gedanken zu einer ökonomischen Hochschule, die in der DDR vor 70 Jahren gegründet wurde

Die Hochschule, um die es hier geht, wurde am 04.10.1950 unter dem Namen Hochschule für Planökonomie gegründet, um in der noch jungen DDR Ökonomen auf Hochschulniveau für eine neue Gesellschaft mit ihren qualitativ neuen Erfordernissen auszubilden. Es war eine gewaltige Aufgabe – quasi noch auf den Trümmern des 2. Weltkrieges. Daraus entstand dann später nach Eingliederung der bis dahin selbständigen Hochschulen für Außenhandel und für Finanzen die Hochschule für Ökonomie „Bruno Leuschner“ Berlin. Aufgrund ihres umfangreichen wissenschaftlichen Profils und der beachtlichen Ausbildungskapazität im Direkt- und Fernstudium, in der Weiterbildung sowie in der Forschung wuchs sie quasi zu einer ökonomischen Universität heran.

Die ersten Studenten

Im Zusammenhang mit diesem Gründungsdatum haben sich ehemalige Mitarbeiter und Studierende der 1991 auf Beschluss des Berliner Senats ohne jegliche Evaluierung „abgewickelten“ Einrichtung wieder versammelt. Es geht natürlich auch um ein Wiedersehen von alten Partnern und Freunden. Es geht im besonderen Maße aber um die Einrichtung selbst, die Ökonomische Hochschule, die wir mit unserer gemeinsamen Arbeit und gemeinsamen Zielen gestaltet haben, um inzwischen gesammelte Erfahrungen und vor allem auch neue Gedanken auszutauschen.

Es drängt sich dann natürlich die Frage auf, warum Menschen nach so langer Zeit wieder zusammenkommen, die ein solches historisches Anliegen hatten und die die Konsequenzen der Entwicklung erlebt und erlitten haben. Dieses steht in untrennbarem Zusammenhang mit dem Sozialismus in der UdSSR, der DDR und anderen Staaten, deren Vorhaben zunächst gescheitert ist.
Das ist schon eine wichtige Frage, denn es gibt ja inzwischen eine Fülle von sogenannten Theorien, die belegen wollen, dass zum Beispiel schon das Anliegen, eine neue und bessere Gesellschaft aufbauen zu wollen, von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen wäre.
Weiter gab es Behauptungen, die international breit diskutiert wurden, dass mit dem zeitweiligen Sieg des Kapitalismus das „Ende der Geschichte“ erreicht und der Typ der für den Kapitalismus gemäßen Demokratie endgültig durchgesetzt wäre (Fukuyama, „Das Ende der Geschichte“).
Die Geschichte der gesellschaftlichen Entwicklung geht natürlich, wie wir wissen und wie historisch bewiesen, weiter. Solche und ähnliche Vorstellungen entsprechen nicht der Realität. Die Anstrengungen eine neue und bessere Gesellschaft zu erreichen, werden in unserer Welt fortgesetzt – unabhängig davon ob die Praxis der Versuche dieser Länder noch einer weiteren Bewährung bedürfen. Das Erfordernis einer neuen und besseren Gesellschaft steht darum heute in noch verstärktem Maße auf der Tagesordnung der Welt.
Nun zu unserer eingangs aufgeworfenen Frage.
Die Gründung der Hochschule für Ökonomie war, ist und bleibt mit diesem Prozess notwendigen gesellschaftlichen Fortschritts in der Welt untrennbar verbunden. Wenn wir einen Blick in die Geschichte werfen, so war der Übergang zu einer neuen Gesellschaft schon immer mit langwierigen und schwierigen Problemen ökonomischer, sozialer und anderer Art verbunden.
Das objektive Erfordernis eines Übergangs von der kapitalistischen Gesellschaft zu einer neuen Gesellschaftsordnung steht nun schon zumindest seit über 170 Jahren auf der Tagesordnung. Die beiden imperialistischen Weltkriege und entsprechende Wirtschaftskrisen sowie die damit verbundenen sozialen Probleme waren die Kulminationspunkte der allgemeinen inneren Erfordernisse für die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Höherentwicklung. Wie bekannt, führten die daraus entstandenen Erschütterungen des alten Systems zur Bildung eines ersten sozialistischen Staates mit allen Problemen, die wir heute kennen.
Nach dem 2. Weltkrieg vollzog sich weiterhin die Entwicklung eines sozialistischen Lagers in Europa, in China und darüber hinaus, und es waren fortschrittliche Tendenzen in den Ländern der 3. Welt zu verzeichnen – gewaltige nationale und soziale Umwälzungen – wobei wir die Veränderungen in der Folgezeit zur Kenntnis nehmen mussten.
Heute drängt wiederum eine neue Welle von Erfordernissen zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Welt. Dabei muss auch erkannt werden, dass bisher im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft – immer noch wieder – neue Felder und Lösungen gefunden wurden, zum Beispiel die Globalisierung, um die Anlagesphäre des Kapitals für eine erweiterte Reproduktion und weitere Profitgewinnung auszudehnen – die Kernfrage des Systems. Es stirbt bekanntlich keine Gesellschaft, bis ihre Möglichkeiten voll ausgeschöpft sind.
Bei den neuen Erfordernissen, die die Grenze der Anlagesphäre und das weitere Wirtschaftswachstums berühren, denke ich zum Beispiel neben den bekannten sozialen Nöten insbesondere an die Umweltgestaltung in der Zukunft, die fast die sozialen Probleme dieser Welt, wie Hunger, Ausbeutung und Bildungsnotstand zeitweilig zu überdecken drohten.
Weiterhin denke ich an die wachsenden Unsicherheiten mit bewaffneten Auseinandersetzungen in dieser Welt, die Stellvertreterkriege, religiösen und Stammesauseinandersetzungen sowie auch die Veränderungen in den Welthandelsbeziehungen, die fast Ausmaße eines Wirtschaftskrieges angenommen haben. Dazu gehört auch die Krise der illegalen Migration, die uns ebenfalls bedrückt.
Weiterhin: die klassischen Grundlagen des Kapitalismus, die über Angebot und Nachfrage und die Selbstheilungskräfte, die die Wirtschaft selbstständig regulieren sollten, sind ins Wanken geraten. Der Weltschuldenberg ist ständig gewachsen und nimmt heute global über eine Jahresleistung des BIPs ein. Das Wirtschaftswachstum konnte also nur über eine wachsende Vorauskonsumption gewährleistet werden.
Die europäische Zentralbank (EZB) hat im Zuge der Entwicklung der Machtkonzeption ihr 1992 festgelegtes Mandat weitgehend verändert. Durch den Kauf von Staatsanleihen im Massenumfang ist die EZB zum Instrument der Insolvenzvermeidung schwächerer EU-Staaten gemacht worden und hat damit die nationalen Wirtschaftsweisen berührt bzw. die gesamte Wirtschaftspolitik verzerrt.
Für die Null-Zinspolitik, die nun zu fundamentalen Veränderungen der klassischen Geldwirtschaft und den Lebensverhältnissen der ganzen Bevölkerung führt, liegen die Ursachen insbesondere darin, die Wachstumsschwächen der Wirtschaft in den Zielländern zu überwinden, indem in Massenumfang schuldenbezogene finanzielle Mittel bereitgestellt werden, um so billig wie möglich neue Kaptalanlagen anzulocken.
Es gibt weiterhin neue gesellschaftliche Probleme, die Konflikte ankündigen, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der verstärkten Digitalisierung.
Schließlich hat die immer noch wirkende Corona-Pandemiekrise tiefgehende Lehren zu den Möglichkeiten und Grenzen des Globalisierens vermittelt. Es geht dabei auch zweifellos in der Lösung um die angemessene Dialektik zwischen nationalen und globalen Interessen und Entwicklungen.
Darüber hinaus sind die Zukunftsaussichten vor allem mit den Finanzproblemen der Krise verbunden. Die Kommissionschefin der EU, von der Leyen, sagte bei der Vorstellung des Konjunkturprogramms: „Jede europäische Generation hat ihre Geschichte“ und sie fügte hinzu, das neue Programm sollte „next generation EU“ heißen. Das sagt eigentlich alles.
In diesem Rahmen des Kampfes um den gesellschaftlichen Fortschritt haben die Hochschule für Ökonomie und auch wir, die ehemaligen Mitarbeiter und Studenten, mit allem, was vorwärtstreibend war und auch mit dem, was heute kritisch gesehen werden muss, ihren Platz. Wir haben als Akteure an einem lange herangereiften Versuch zu einer gesellschaftlichen Weiterentwicklung, an einem notwendigen gesellschaftlichen Experiment, teilgenommen, wenn auch das konkrete Ziel noch nicht erreicht werden konnte.
Entsprechend diesem historischen Anliegen verlangte dafür auch die erste Leiterin der Hochschule, Frau Prof. Dr. Altmann, die Schaffung einer „Hochschule neuen Typus“, womit auch dem ersten Lehrkörper, der aus wirklichen Antifaschisten bestand, notwendiger Dank gesagt werden soll.

Wir haben in diesem Sinne mit unserer Aus- und Weiterbildung, unserer Forschung und den internationalen Aktivitäten die Entwicklung eines neuen Staatswesens unterstützt. Es kann keine neue Gesellschaft ohne neuen Staat geben – unabhängig von den Einschätzungen, die dazu heute von verschiedener Seite gegeben werden.
Wir haben weiterhin unter den gegebenen Bedingungen der Wirtschaftspolitik Ansätze und Teile einer neuen nicht-kapitalistischen Wirtschaftswissenschaft vorgelegt, wobei die Verbindung mit der Praxis in jedem Falle zu den Grundprinzipien gehörte.
Wir haben ein historisches Anliegen der DDR und des allgemeinen Fortschrittes mit verwirklicht, das in der Öffnung des Zugangs der Kinder von Arbeitern und Bauern zu einem Hochschulstudium bestand.
Darüber hinaus sind die umfangreichen Leistungen der Hochschule für Ökonomie nachzulesen und statistisch erfasst. Dafür empfehlen wir unser Buch „1950 – 1991 Hochschule für Ökonomie „Bruno Leuschner“ Berlin“ – Leistungen und Defizite in Lehre und Forschung/Persönliche Erfahrungen und Erinnerungen/Herausforderungen an die Wirtschaftswissenschaften“ (2. erweiterte Auflage 2013).
In diesem Rahmen muss man auch über das sprechen, was falsch war oder sich nicht zukunftsgerecht bewährt hat. Wir haben dazu in unserem Kreise viele Diskussionen geführt, und es gibt natürlich inzwischen auch viele neue grundlegende Erkenntnisse, die mit der Gesamtproblematik der Schaffung einer neuen Gesellschaft zusammenhängen. Eine Diskussion darüber würde unser heutiges Anliegen überfordern.
Wenn man diese Seite unserer Arbeit dennoch hier auf einen Nenner bringen will, so muss man sagen: unsere Arbeit vollzog sich unter Bedingungen des kalten Krieges und nur eines einzigen politisch gesetzten Modells des Sozialismus, das sich im harten Wettkampf der Systeme nicht halten konnte.
An der Hochschule für Ökonomie waren wir damals direkt an ein weiterentwickeltes wirtschaftliches Modell auf der Grundlage von Planung und Markt herangekommen, das wiederum auf der konsequenten Einhaltung der Ware-Wert-Geldbeziehung beruhte. Zur Diskussion und Durchsetzung fehlten in der damaligen DDR eine wirklich neue Demokratie und die entsprechenden internationalen Bedingungen. In dieser Situation der damaligen Staatsräson gab es keinen Durchbruch zu einem neuen Konzept. Alles Weitere hat die Geschichte entschieden.
Darum sind wir, wenn eine Zusammenfassung vorgenommen werden darf, also nach 70 Jahren zusammengekommen, um auch die eingangs aufgeworfene Frage zu beantworten: Unsere Arbeit war nicht vergebens. Es gibt eine ganze Reihe von gesellschaftlichen Bereichen, in denen unsere Leistungen aus der Vergangenheit noch bis heute wirken. Nicht zuletzt waren es Menschen, die wir inspiriert und bewegt haben, wie das heutige Treffen zeigt. Unsere Arbeit und mit der Hochschule für Ökonomie bleibt als Vorleistung für den künftigen gesellschaftlichen Fortschritt weiterhin von Bedeutung. Wir haben mit unserer Art der Sozialisierung die Möglichkeiten einer neuen Gesellschaft – auch trotz ihrer Mängel – praktisch schon gespürt. Wir sollten diesen Erfahrungsschatz pflegen und nutzen, sowie uns weiterhin für den gesellschaftlichen Fortschritt einsetzen.
Wenn wir heute, verbunden mit den differenzierten und komplizierten Bedingungen dieser Welt, die für die Schaffung einer neuen und besseren Gesellschaft unbedingt die Basis bilden, unsere damaligen und heutigen Aufgaben im Auge haben, so werden wir auch die ungeheuer gewachsenen Ansprüche an die Dimensionen und den Kompliziertheitsgrad unseres Anliegens mit dem ganzen Gewicht spüren. Wir haben zweifellos manches auch zu einfach gesehen.
Entwicklung und Fortschritt sind objektiv und dem Geschichtsverlauf immanent. Setzen wir auf die neuen Fortschrittskräfte in dieser Welt und geben wir auch heute noch mit historischem Optimismus dafür unser Bestes.