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Fünf aus der AW 69/5

Autorinnen: Renate Harnisch, Christel Fielauf, Carola Stauber, Angela Strumpf, Andrea Wojtynek

Die fünf „Mädels“ haben von 1969 bis 1973 zusammen an der HfÖ Außenwirtschaft studiert und bis auf die Berlinerin Angela auch zusammen in einer Internatswohnung im Hans-Loch-Viertel gewohnt. Nach dem Studium haben sie sich nie ganz aus den Augen verloren, haben ihre Kinder groß werden sehen und den Kontakt nicht abreißen lassen. (Eine Ausnahme war Angela, die vor ein paar Jahren von Renate während eines Konzerts im Pianosalon in Berlin „wiederentdeckt“ und dann fest in den Freundeskreis einbezogen wurde.) So wie die Fünf aus den verschiedensten Gegenden des Landes nach Berlin gekommen sind, mit ganz unterschiedlichem sozialem Hintergrund, so differenziert gestalteten sich auch ihre Lebenswege nach dem Abschluss des Studiums. In fünf Lebensberichten geben sie Antwort auf Fragen wie: Was ist aus uns geworden? Was haben wir erlebt? Und was verbindet uns noch immer, trotz aller Gegensätzlichkeit und unterschiedlicher Interessen?
Was sie zu erzählen haben ist eine Bestätigung der Worte von Henry Ford: „Wer immer tut, was er schon kann, bleibt immer das, was er schon ist.“

HfÖ – ein geteilter Himmel

Renate Wolf (verh. Harnisch) zur Studienzeit

Meine Erinnerungen an die HfÖ sind nur partiell schön.
Aber fangen wir mit dem Positiven an. Es gibt drei Dinge aus meiner Studienzeit, die mein privates und berufliches Leben bereichert haben:
1. Im Studentenclub – und zwar bei einer FDJ-Fete – habe ich meinen Mann Gert (AW 71/1) kennengelernt, mit dem ich nun schon fast 50 Jahre lang zusammen lebe und das in bester Weise.
2. Die HfÖ hat mich gelehrt, methodisch zu arbeiten. Das war in allen Phasen meines beruflichen Lebens von Vorteil, denn nicht jeder meiner Kollegen verfügte über solche Fertigkeiten.
3. Keinesfalls zu vergessen sind auch wenige, dafür aber intensive Freundschaften aus dieser Zeit.

Den Rest würde ich unter „falsche Studienrichtung gewählt“ einordnen. Beruflich geschadet hat mir das nicht, weil ich nach fünf Jahren mit der Geburt unseres Sohnes die Reißleine gezogen und dem Außenhandel ade gesagt habe.
Der Wechsel in eine weniger systemrelevante Branche, nämlich die Kommunale Wohnungsverwaltung (KVW), war für mich das genau Richtige. In meinen dortigen 10 Jahren habe ich drei verschiedene, ganz unterschiedliche Jobs ausgeübt und es von der Pike auf gelernt, Mitarbeiter zu führen. Das war eine wahre Schule des Lebens.
Ganz nebenbei haben wir immerhin von der KWV nach 30 Lebensjahren unsere erste richtige Wohnung mit Innentoilette und moderner Heizung erhalten. Dieser Luxus – unvorstellbar.

Dann nochmals ein unerwarteter Branchenwechsel in die Hotellerie und nach der Wende die erfüllende Arbeit als Personalchefin in einer internationalen Hotelkette. Wer hätte am Anfang meines Berufsweges an so etwas gedacht. Und so hat das Studium an der HfÖ vielleicht doch mehr positive Seiten als gefühlt.
Flexibel waren wir allemal.

Von Tempelberg nach Berlin … und wieder zurück

Christel Schüttler (verh. Fielauf) zur Studienzeit

Ich wurde 1950 geboren, im Jahr der Gründung der Hochschule für Ökonomie Berlin. Aufgewachsen bin ich in einfachen ländlichen Verhältnissen, in einer Familie, in der immer mehrere Generationen zusammenlebten und in der Arbeit und Fleiß den Alltag bestimmten. Meine Eltern waren stolz darauf, dass alle drei Kinder studieren konnten.
Als es 1969 die ersten Berührungspunkte mit der Hochschule gab, waren grundlegende Lebenseinstellungen bereits fixiert: Ich war ein Kind der DDR und wollte meinen Teil zu einer besseren Welt beitragen. Ausgehend von meinen Lieblingsfächern Mathematik, Fremdsprachen und Gesellschaftswissenschaften schien Außenwirtschaft das Richtige zu sein. Studium – das Tor zum Erwachsenwerden, zu mehr Selbständigkeit … Doch die zeitliche Begrenzung auf vier Jahre, die genau fixierten Studienpläne forderten mir viel ab und entsprachen inhaltlich nicht immer meinen idealisierten Vorstellungen. Erst als ich mich nach zwei Jahren Grundstudium für „Internationale Ökonomische Beziehungen (IÖB)“ als Spezialausbildung entschied, fing es an, mir zu gefallen.

Was ist mir von meiner Studienzeit noch in Erinnerung geblieben? Natürlich unsere Wohngemeinschaft im Hans-Loch-Viertel. Der Internatsplatz kostete nur 15 Mark im Monat und war bei einem Grundstipendium von 150 Mark auch für ein Arbeiterkind erschwinglich. Mein Geld reichte immer noch für Bücher, Wolle und Schuhe, worüber sich meine Mutter immer sehr amüsierte. Mancher Pullover wurde in den Vorlesungen gestrickt. Natürlich kam ich von jedem Besuch zuhause mit Taschen voller Naturalien zurück, was sparen half.

„Wohin des Wegs, schöne Frau?“ (Archivfoto mit Christel)

Und das Studium? Ich erinnere mich an unseren Mentor, der uns im Lehrbuch „Politische Ökonomie des Sozialismus (PÖS)“ immer gerade einen Abschnitt voraus und äußerst langweilig war, an den Französischlehrer, der mitten auf dem Innenhof der Hochschule Trockenübungen für seine Fahrschule machte, an den Lichtblick Mathematik, deren Sinn sich mir bis zu den Differentialgleichungen dritten Grades immer noch erschloss, an die Vorlesungen im Nebenfach Psychologie, die auch abends um halb acht noch gut besucht waren, an Manfred Krug und Uschi Brüning im Audimax und und und …

Kurz: Es war eine intensive und abwechslungsreiche Zeit, die mit einem erfolgreichen Abschluss und einem Arbeitsvertrag als Lehrerin für Internationale Ökonomische Beziehungen an der Fachschule für Außenwirtschaft (FAW) endete. Hier lernte ich meinen Mann, ebenfalls Lehrer, kennen. Wir heirateten, 1975 wurde unsere Tochter und fünf Jahre später unser Sohn geboren. Mit Rücksicht auf die Familie und eine geregelte Arbeitszeit wechselte ich in einen Außenhandelsbetrieb und arbeitete als Preisökonom bzw. in der Kontokorrentbuchhaltung. Als Mitte der 80er Jahre die
Fachschule für Außenwirtschaft nach Marzahn und damit in Wohnnähe umzog, ergriff ich die Gelegenheit und ging zurück. Ich hatte eine Fachbibliothek aufzubauen und gab wieder Unterricht.
1988 war die Zusammenlegung der Fachschule für Außenwirtschaft mit der HfÖ ein Thema und wir Lehrer der FAW bekamen das Angebot zu promovieren. Mein Mann ermutigte mich. Die Kinder waren aus dem Gröbsten heraus und ich hatte Lust dazu.
So wurde ich 1988 für eine dreijährige Aspirantur freigestellt.

Zum zweiten Mal war ich nun an der HfÖ, diesmal im Wissenschaftsbereich Außenwirtschaftsbeziehungen. Mit meinem Thema traf ich genau den Nerv der Zeit: Es ging um die theoriegeschichtliche Aufarbeitung weltwirtschaftlicher Interdependenz. Mit großer Unterstützung meiner „Doktormutter“, mit der ich heute noch befreundet bin, vor allem aber mit dem moralischen Zuspruch und der fremdsprachlichen Hilfe durch meinen Mann gelang es mir, die Dissertation im Februar 1991 noch zu verteidigen. Ich war wohl die letzte, die an der HfÖ ihre Dissertation – erfolgreich und mit einem Zweitgutachten der FU Berlin – abschloss. Noch im gleichen Jahr wurde die Hochschule abgewickelt und ich war arbeitslos. Meine Eltern brauchten mich und so zog ich mit Mann und Kindern in meinen Geburtsort, in mein Elternhaus zurück.

Nichts wurde danach einfacher. Zeit des Nachdenkens. Wo konnte ich einen Platz in dieser Gesellschaft finden, die nicht meine war? Was war es wert, aus 40 Jahren DDR erhalten zu werden und mir selbst treu zu bleiben? Soziales Engagement! Ich fand meinen Platz für fast 20 Jahre in der Arbeitsförderung. Ich wurde Geschäftsführerin einer ländlichen Arbeitsfördergesellschaft, die nach fünf Jahren aufgeben musste, arbeitete danach als Projektmanagerin, Kursleiterin und Lehrerin in der Weiterbildung für Arbeitsuchende in einer anderen Arbeitsfördergesellschaft.
Ich wurde Gemeindevertreterin in meinem Heimatort und unterstützte alle kulturellen Aktivitäten, die zum Erhalt der Dorfgemeinschaft beitrugen. Meine intensive Lebensweise forderte gesundheitlichen Tribut. Ich ging mit 60 Jahren in Rente, auch, um endlich die Zeit für mein Projekt „Dorfchronik“ zu haben. Mit meinem Heimatort war mein Leben immer eng verbunden. Die Erforschung der 800-jährigen Geschichte Tempelbergs füllte meine 60er Lebensjahre aus. Drei Bücher zur Regionalgeschichte sind entstanden, die auch einen Platz in der Berliner Staatsbibliothek gefunden haben.
Wie gesagt, ich bin fast 70 Jahre alt, schreibe immer noch über Tempelbergs Geschichte (Tipp der Redaktion: http://www.tempelberg.de/mach-mit-bei-uns.html), bin heute Ortsvorsteherin, lebe für Familie und Dorfgemeinschaft, habe Zeit für die Freunde. Meine Kinder haben ihren Platz im Leben gefunden. Mit dem Mann an meiner Seite, ohne den ich das alles nicht geschafft hätte, bin ich 45 Jahre verheiratet. Mich zurückzunehmen, fällt mir auch angesichts aktueller weltweiter Entwicklungen schwer und ich kämpfe gegen das Vergessen der Vergangenheit.

Aus der Lausitz nach Europa

Carola Reindke (verh, Stauber) zur Studienzeit

43 Arbeitsjahre im In- und Ausland und in zwei Wirtschaftssystemen stehen auf meiner Agenda. Eine breite Allgemeinbildung, Abitur und das Ökonomiestudium an der HfÖ bildeten mein theoretisches Rüstzeug. Der Einstieg in die praktische Außenhandelstätigkeit begann im AHB Chemie-Export-Import als Importsachbearbeiter.
Meine Spezialisierungsrichtung Internationale Ökonomische Beziehungen (IÖB) führte mich in einen Länderbereich des Außenhandelsministeriums. In Athen konnte ich als Marktökonomin und Handelsattaché dazu beitragen, den Warenaustausch zwischen der DDR und Griechenland erheblich zu erweitern. Ende 1986 wieder im Länderbereich tätig, war ich mit Fragen der Handelsförderung und Handelspolitik der DDR gegenüber südlichen EG-Mitgliedsländern befasst. Ein glücklicher Umstand, denn 1990 übernahm mich die Europaabteilung des Bundesministeriums für Wirtschaft. Mit Rat und Tat unterstützte ich die EG-Referenten in den neuen Landesministerien, begleitete den Aufbau von Wirtschaftsfördergesellschaften und EURO-Info-Zentren. Mit Herzblut, aber auf Verwaltungswegen, die nicht meine waren. Auf eigenen Wunsch wechselte ich in die freie Wirtschaft.

Mittels Leasing nötige Investitionen unter Einbindung von EU-Fördermitteln zu tätigen, war ein neues Thema in den jungen Bundesländern. Leasing lernte ich und Kenntnisse über die Fördertöpfe der EU brachte ich aus der obersten Bundesbehörde mit. Für die Leasingsparte der niederländischen ING-Gruppe baute ich als Geschäftsführerin das Berliner Büro auf. Als die Quelle Investitionszulage langsam versiegte, beschloss der Konzern die Schließung des Büros. Die Abwicklung war meine Aufgabe, Pendeln nach Hamburg folgte. Und wieder hatte ich Glück. Die Arbeit bei einem internationalen Konzern öffnete mir im Jahr 2000 die Türen in eine Berliner Leasinggesellschaft. Die Geschäftsfelder waren abwechslungsreich und interessant, aber nicht enden wollende Umstrukturierungen erleichterten mir den planmäßigen Abschied aus der Berufswelt.

„Raus aus dem Internat – hinein ins Leben“ (Carola beim Auszug, Hans-Loch-Straße 255)

Zu keiner Zeit stand für mich die Frage: Beruf oder Familie. Beides unter einen Hut zu bringen war zum Ende des Studiums möglich und selbstverständlich. Ein Gendersternchen brauchte ich dafür nicht. Ich schaffte diesen Spagat gemeinsam mit meinem Mann Bernd (VW 69/4), der meinen Spuren zum Außenhandel folgte und mir wiederum buchhalterisches Zahlenverständnis näher brachte. Zahlen sind auch die Welt unserer Tochter.
Nach langen Bürotagen sorgte ein kreatives Hobby für das nötige Abschalten. Schon lange beschäftige ich mich sehr erfolgreich mit dem Erhalt der traditionellen sorbischen Kunst des Ostereierverzierens und gebe meine Erfahrungen in Museen und als Kursleiterin an einer Berliner Volkshochschule weiter.
Den Gedankenaustausch mit langjährigen guten Freunden möchte ich nicht missen. Wir Fünf aus AW 69/5 treffen uns sehr gerne und fabulieren über Gelerntes, Gelesenes und Erlebtes. Nicht immer decken sich unsere Meinungen, aber wir hören einander zu und respektieren die unterschiedlichen Erfahrungen aus dem Leben und Arbeiten in zwei verschiedenen Gesellschafts- und Wirtschaftssystemen. An meinen Freunden schätze ich das, von anderen erwarte ich es.
Wer nicht fragt, der nicht gewinnt.

Von der Devisen- zur Immobilienverwalterin

Angela „Liebi“ Liebmann (verh. Strumpf) zur Studienzeit

09.11.1949, ein denkwürdiger Tag: Ich wurde geboren, 40 Jahre später in der ganzen Bundesrepublik ein Feier- und Gedenktag. Kindheit in den östlichen Szenebezirken Prenzlauer Berg und Lichtenberg ohne Helikoptereltern, die sich nicht um unsere Spiele in Ruinen, auf Hinterhöfen und an Klopfstangen, mit rostigen ausgeborgten nicht TÜV- oder GS geprüften Roll- und Schlittschuhen und Fahrrädern scherten. Wegen vorübergehendem Phlegma führte mein Weg zum Abitur über die Berufsausbildung. Angesichts der Alternativen schwankte ich zwischen Betonbauer oder Verkehrskaufmann (gendergerecht -kauffrau) bei der INTERFLUG. Wegen intellektuellerem Anstrich, schickerer Berufsbekleidung und Aussicht auf internationale Luft zog ich letzteres vor. Aber was danach? „Kellner in der Luft“ – wie meine Eltern meinten – wollte ich nicht werden. Also musste ich mir etwas anderes einfallen lassen, um die große weite Welt (zumindest ein Stück davon) zu entdecken.
Mein Abi-Abschluss und geringe Stellenaussichten ließen Studienrichtungen wie Archäologie, Ethnologie, Arabistik nicht zu. Außenwirtschaft – das wäre doch etwas. Wo konnte man das studieren? Mich zog es weg aus dem Elternhaus in eine trubelige Studentenstadt. Aber Außenwirtschaft gab es nur an der Hochschule für Ökonomie in Berlin. Viele Chancen malte ich mir nicht aus und vermerkte als Zweitstudienwunsch vorsichtshalber Lehrer, die wurden immer gebraucht.

Doch oh Wunder, im September 1969 wurde ich in die AW 69/5 aufgenommen. Um die Nähe zur Arbeiter- und Bauernklasse nicht zu verlieren, hieß es zunächst in Schwedt Baracken mauern, die trotz fehlender Fachkenntnisse tatsächlich hielten. Nicht nur da waren wir einsatzstark, sondern auch beim Verschönern der Wohnunterkünfte unserer mehrheitlichen Nichtberliner im Hans-Loch-Viertel.
Außer dem Studium gab es auch noch ein lustiges Studentenleben: Kartoffeleinsatz (Muskelkraft zum Stemmen der Körbe und Bierbembel trainierte ich während der Nachtschichten im Werk für Fernsehelektronik), Fahrt nach Budapest und zum Balaton, legendäre Faschingsfeten, Jazzabende, Besuche in der „Scharfen Ecke“, Pflaumenknödelessen im Internat, unsere Einsätze beim Weltjugendtreffen in Berlin. Beim sonstigen ausschweifenden Studentenleben im Internat war ich als brave Berlinerin nicht immer dabei.

„Drei Grazien – nur Paris mit dem Apfel fehlt“ (Archivfoto mit Renate (li), Carola (re) und der leider schon verstorbenen Susanne Grau (verh. Klassert))

1973 war es dann soweit: wir hielten unsere Abschlusszeugnisse und Diplome in den Händen und trafen uns zur Abschiedsfeier als Seminargruppe ein letztes Mal in einer Gaststätte am Alexanderplatz. Die meisten verloren sich aus den Augen, doch einige hielten die Jahre danach immer Kontakt, so wie wir Fünf.
Nach dem Studium konnten wir weder Betrieb noch Abteilung für unseren beruflichen Start wählen. Somit landete ich beim AHB Industrieanlagen Import (IAI) in der Abteilung Betriebsorganisation, um dort bar jeglicher Kenntnisse der Abläufe Betriebsorganisationsanweisungen (BOA) zu erstellen. Nicht mein Traum, aber wir waren eine lustige Truppe junger Frauen mit ausgeprägtem Hang zum Lachen und gemeinsamen Feiern. Das war auf Dauer nicht erfüllend. So wechselte ich wunschgemäß in die Länderabteilung.
Da meine Tätigkeit Rücken an Rücken mit meinem künftigen Mann Wolfgang stets für spöttische Bemerkungen sorgte, zog ich es vor, meine weitere berufliche Laufbahn 1975, nach der Geburt unseres ersten Kindes, beim AHB Maschinenexport als Importkauffrau und in Aussicht gestellter Gruppenleiterposition fortzusetzen. Da der Aufstieg auf sich warten ließ, entschieden wir uns fürs zweite Kind mit anschließendem zweijährigen Intermezzo beim Elektroprojekt und Anlagenbau in der Abteilung Import (wegen Wohnortnähe).
Die dort auferlegten Beschränkungen im selbstständigen Agieren mit in- und ausländischen Partnern motivierten mich zu neuen Herausforderungen. So begann 1981 mein Aufstieg im AHB Intercoop im Export immaterieller Leistungen (verschrien als „Menschenhandel“). Nach Exportkauffrau, Gruppenleiterin, Bereichsleiterin verhinderte ich meinen Ritterschlag zur stellvertretenden Generaldirektorin durch die Geburt unseres dritten Kindes 1986 – drei Jahre vor dem Zusammenbruch des DDR-Außenhandels die richtige Entscheidung.
1989 ging ich in Kurzarbeit, um mich in Lehrgängen wie PC, Buchhaltung, Steuern, Sprachen für den neuen Arbeitsmarkt fit zu machen. Ich begann 1990 von „ganz unten“ als Vertriebsassistentin bei einer Westberliner Firma für Chemische Analysegeräte. Deren Befürchtung im Bewerbungsgespräch, ich sei überqualifiziert, konnte ich offensichtlich mit meiner Antwort, Neuem gegenüber stets aufgeschlossen zu sein, zerstreuen. Man hielt mich für prädestiniert, Akquisition in den neuen Bundesländern zu betreiben, da ich die ausreichende Geduld für das marode Telefonnetz aufbrachte. Flexibel stellte ich mich auf die neuen motivierenden Führungsqualitäten der Arbeitgeber ein: der Aufforderung, das Denken dem Geschäftsführer zu überlassen, dem Zweifel an ostdeutschen Schreibkenntnissen und später einen Taschenrechner werfenden Chef. Nachdem der Ostmarkt gesättigt war, begann 1994 wieder der Abbau des Personals. In dem daran anschließenden Arbeitsrechtsprozess konnte ich das bei Intercoop als Vorsitzende der Konfliktkommission erworbene Durchsetzungsvermögen bei der Bewältigung von Konflikten im Westen unter Beweis stellen. Von der Abfindung erwarben wir unser erstes besseres Auto.

Ich stand dem Arbeitsmarkt wieder zur Verfügung: mit 45 Jahren, drei zu versorgenden Kindern und einem um „Muggen“ ringenden Musiker. Eine boomende Branche musste es sein: Immobilien! Meine wohlgesonnene Arbeitsvermittlerin verhalf mir zur Weiterbildung in der Immobilienwirtschaft mit dem Erfolg, dass ich ein Jahr später 1995 statt des angefragten Praktikumsplatzes einen Job als Projektmanagerin in der Fondsverwaltung eines renommierten Berliner Wohnungsbauunternehmers angeboten bekam, mit den Bemerkungen „wir wollen jemanden, der richtig arbeitet“ und „mit Ihren Gehaltsvorstellungen sind Sie unterbezahlt“. Bis 2017, also 22 Jahre lang und zweieinhalb Jahre über mein Renteneintrittsalter hinaus, habe ich dort alle Höhen und Tiefen des Unternehmens durchgestanden.
Die Wende hat mir und meinem Mann einige Umstellungen und Anpassungen abverlangt. Was wir jedoch unter neu auferlegter Freiheit weidlich genutzt haben, waren die weltweiten Reisemöglichkeiten und Kunst- und Kulturangebote im geeinten Berlin. Die letzteren führten zum Aufleben von Kontakten zu ehemaligen Mitstudentinnen der AW 69/5, die alle ein tolles, kreatives, erfülltes und aktives Seniorendasein genießen, woran wir gerne auch mal teilhaben.

Aufgeben gilt nicht

Andrea Krell (verh. Wojtynek) zur Studienzeit

Im März 1951 wurde ich als viertes Kind eines Braumeisters und einer Kindergärtnerin geboren und wuchs im Altenburger Land auf. Da wir 1964 nach Suhl in den Thüringer Wald umzogen, machte ich dort mein Abitur. Meine Freizeit verbrachte ich weitgehend im Schwimmverein, wenn ich nicht gerade las. Nicht nur, dass ich fast immer ein Buch vor der Nase hatte, ich begann im zarten Alter von zehn Jahren auch damit, selbst Gedichte und Geschichten zu schreiben – wahrscheinlich sehr dilettantisch. Warum ich dann doch nicht Germanistik oder Journalismus studierte, sondern zum Studium der Außenwirtschaft nach Berlin ging, ist mir noch heute ein Rätsel und war wohl auch nicht meine klügste Entscheidung. Lockte mich die große, weite Welt?
Doch dadurch lernte ich schon 1970 meinen späteren Mann Klaus (MDW 69/1) kennen und blieb ihm bis heute treu. Wir haben zwei Söhne und vier Enkelsöhne und leben seit 1994 im Brandenburger Land, dicht am nordwestlichen Stadtrand der von uns immer noch geliebten Metropole Berlin, unserem „Kultur Hot Spot“.
Als „MAH- Kader“, der für die Hauptbuchhalter- Laufbahn vorgesehen war, kam ich 1973 in den AHB Textil Commerz. Ich blieb dann aber dem Waschbären Felix, dem Wahrzeichen der Textiler, treu und ging auf eigenen Wunsch nicht zum Ministerium für Außenhandel (MAH). Fast 20 Jahre lang war ich Mitarbeiterin der Abteilung Wirtschaftskontrolle, zuletzt Gruppenleiterin Valutakontrolle.

„Warte mal, der Pullover ist gleich fertig“ (Archivfoto mit Andrea (re) und Angela aus dem ZV-Lager Altenberg)

Dann fiel die Mauer, ein Glücksumstand aber zugleich Ende des DDR-Außenhandels. Als Mitglied des Betriebsrates begleitete ich den traurigen Prozess der Liquidation und der Massenentlassungen aus nächster Nähe. 1992 bewarb ich mich in der Kreditabteilung einer Niederlassung von Thyssen-Krupp in Berlin-Moabit mit dem im Bewerbungsgespräch kühn geäußerten Satz: “Man kann alles lernen!“, obwohl ich vom Forderungsmanagement unter Bedingungen der Marktwirtschaft Null-Ahnung hatte. Zehn Jahre war ich dort als Mitarbeiterin und später Gruppenleiterin tätig, bevor der „real existierende Kapitalismus“ zuschlug. Nachdem bereits die kaufmännischen Abteilungen des Konzerns in Dresden, Leipzig und Chemnitz aufgelöst worden waren, kam auch Berlin an die Reihe. Es wurde deutlich, dass wir Mitarbeiter nur Nummern und Kostenfaktoren für die Geschäftsleitung waren. Bittere Erfahrungen!

Danach wurde mein Berufsleben nicht unbedingt erfolgreicher, aber auf jeden Fall bunter: Arbeitslosigkeit, Weiterbildungen und Praktika, kaufmännische Tätigkeiten in den unterschiedlichsten Branchen – von IT bis Hotellerie – zuletzt bis 2013 beim Sozialwerk der Gewerkschaft der Polizei (GdP) Berlin. Aber ich lernte massenhaft neue Menschen und Schicksale kennen, fand mich immer wieder in neue EDV-Systeme und neue Kollegenkreise (manchmal hätten alle Kollegen/innen vom Alter her meine Kinder sein können) hinein und war auch ein bisschen stolz auf meine doch offensichtliche Flexibilität.
Zwischendurch auch mal berufliche Selbstständigkeit als Familien- und Seniorenbetreuerin, Praktikum im Altenpflegeheim. Es gab alles, auch zeitweilige Depression und Mobbing. All das hätte ich nie ohne meinen Klaus und auch nicht ohne die Solidarität und Unterstützung sowohl alter als auch neuer Freunde geschafft. In diesen Jahren lernte ich die Bedeutung von Familie und Freundeskreis erst so richtig schätzen.
Was ganz besonders wichtig wurde für meine Selbstachtung, und im wahrsten Sinne des Wortes „Selbsterhaltung“, war das Schreiben von Texten und vor allem Gedichten. Ab 2008, in den beruflich für mich schwierigsten Jahren, veröffentlichte ich in bescheidenem Rahmen die ersten Kurzgeschichten und begann vor kleinem Publikum zu lesen.
Dass sich auch andere Menschen an dem von mir Geschriebenen erfreuen konnten, war eine neue, wichtige Erfahrung für mich. Und auch hier hat mich unser Freundeskreis, darunter die meisten aus HfÖ-Zeiten, aktiv unterstützt. Solange ich kann, möchte ich kreativ bleiben und beweglich – geistig wie körperlich.
Mein Statement: Poesie und Ökonomie schließen einander nicht aus.

Zwei Gedichte von Andrea haben wir im November 2020 unter Wortmeldungen veröffentlicht: „Corona – Ernstes und Romantisches in Gedichten„.