Autor: Frank Haustein
Dr. Frank Haustein (ST 65/1) hat an der HfÖ studiert, geforscht, promoviert und gelehrt. Er hat viele Dokumente aus der Hochschulzeit gesammelt und geordnet, die ihn in die Lage versetzen, auch nach 50 Jahren detailliert über im Studium Erlebtes und Erfahrenes zu berichten.
Vorbemerkung: Bei der nachfolgenden Reflektion meines Studiums hebe ich insbesondere zwei Wertungen hervor, die mir rückblickend besonders wichtig sind: es handelte sich um ein systematisches und zielgerichtetes Studium und um eine ganzheitliche Ökonomieausbildung. Ich habe mich nach der Wende nie wieder intensiv mit den jetzigen Studiensystemen beschäftigt. Mein „Bauchgefühl“ sagt mir jedoch, dass die genannten Aspekte unseres Studiums im Vergleich zur heutigen Studiengestaltung positiv zu werten sind.
Systematisches und zielgerichtetes Studium:
Die Studienorganisation und die sozialen Studienbedingungen zu meiner Studienzeit gewährleisteten, dass ein Studium in der Regelstudienzeit abgeschlossen wurde. Mein Studium begann im September 1965. Am 28.07.1969 wurde mir der akademische Grad „Diplom-Wirtschaftler“ verliehen. Ich absolvierte mein Studium systematisch und zielgerichtet in vier Jahren. Mit 23 Jahren hatte ich einen akademischen Berufsabschluss.
Ganzheitliche Ökonomieausbildung:
Das Studium an der HfÖ war ein wirtschaftswissenschaftliches Studium. Gegenstand des Studiums war mithin die Ökonomie. Wenn ich hervorhebe, dass dieses Studium als ganzheitliche Ausbildung konzipiert war, meine ich damit, dass die Ökonomie, also das gesellschaftliche Wirtschaften immer in Bezug auf ihre soziale Bestimmtheit behandelt wurde, dass also die sozialen Triebkräfte des Wirtschaftens das Bindeglied für ein ganzheitliches Verständnis der Ökonomie darstellen, dass also
• die Ökonomie in der historischen Entwicklung durch die Produktivkraftentwicklung und die Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse determiniert ist und
• das Gesamtgebäude der Ökonomie sozial determiniert ist. Damit gab und gibt es einen „roten Faden“ dafür wie Ökonomie funktioniert.
Das ist bei meiner Bewertung der heutigen Wirtschaftspolitik ein unverändert guter Kompass. Wesentlich beigetragen zu einem derartigen ganzheitlichen Verständnis der Ökonomie hatte für mich das Lehrgebiet Wirtschaftsgeschichte. Die Vorlesung wurde durch den Lehrstuhlinhaber Prof. Hans Mottek gehalten. Bestimmendes Merkmal seiner wirtschaftswissenschaftlichen Schule war die Herausarbeitung der Triebkräfte wirtschaftlicher Entwicklungen in der „Dialektik von wissenschaftlichen, technischen und sozialökonomischen Zusammenhängen“. (Die Seminare im Fach Wirtschafsgeschichte hielt übrigens Karl Mickel. Er wurde später als Mitglied der Leitung des Berliner Ensembles und Schriftsteller bekannt. 2012 fand ich sein Grab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin.)
Wichtig für ein ganzheitliches Verständnis der Ökonomie war für mich auch, dass im Rahmen des Grundlagenstudiums Vorlesungen und Seminare im Lehrgebiet Philosophie gehalten wurden. Ich zitiere hier meinen Dozenten im Lehrgebiet Philosophie Prof. Günter Söder, der hervorhebt, dass „der in der Wirtschaft Tätige (…) nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine sozialpolitische und ethische Funktion (hat)“. Das war der Ansatzpunkt für die philosophische Ausbildung. Es ging um das Verständnis des Wesens gesellschaftlicher Verhältnisse als Verhältnisse zwischen Menschen, hierbei insbesondere und. um das Verhältnis Ökonomie und Politik.
Mein Studium an der HfÖ war für mich eine spannende Zeit einer umfassenden Wissensaneignung. Spannend war diese Zeit vor allen Dingen deshalb, weil ich wissbegierig war und gerne studiert habe. Heute wird häufig nach ideologischem Muster argumentiert, dass es sich um ein verschultes, vordergründig ideologisch geprägtes Studium an der roten Hochschule in Berlin-Karlshorst handelte. Ich habe das nie so empfunden. Das Studium war auf eine systematische und zielgerichtete Wissensaneignung ausgerichtet und ließ zugleich viel Spielraum für eine an eigenen Interessen orientierte Spezialisierung zu. Mit einer einheitlichen obligatorischen Grundausbildung für die Studenten aller Fachrichtungen wurden die Grundlagen für ein Verständnis der Ökonomie in ihrer historischen Entwicklung, ihrer gesellschaftspolitischen Bestimmtheit, in ihrer sozialen Wirkung und ihrer ganzheitlichen Bestimmtheit durch betriebliche, volkswirtschaftliche und weltwirtschaftliche Zusammenhänge gelegt. Damit waren Grundlagen dafür geschaffen, sich bewusst und begründet im Rahmen der Fachrichtungsausbildung zu spezialisieren. Das wurde ermöglicht, indem neben weiterhin obligatorischen Lehrveranstaltungen wahlobligatorische und fakultative Lehrveranstaltungen angeboten wurden.
Ich selber besuchte unter anderem eine fakultative Lehrveranstaltung bei meinem späteren Kollegen und Bereichsleiter Prof. Werner Dück. Die Teilnahme an dieser fakultativen Vorlesung entsprach meinen Interessen und war ein wesentlicher Baustein dafür, dass ich später meine berufliche Tätigkeit an der HfÖ im Wissenschaftsbereich Operationsforschung begann.
Nun könnte vermutet werden (und häufig wird mit Blick auf die untergegangene DDR ideologisch so argumentiert), dass die obligatorischen Lehrveranstaltungen politisch geprägte Agitationsveranstaltungen waren. Richtig ist, dass die Lehrveranstaltungen in Philosophie und der Politischen Ökonomie des Kapitalismus (PÖK) sehr einseitig auf das Studium der Klassiker des Marxismus-Leninismus, also auf das Studium der Werke von Marx, Engels und Lenin, und hier insbesondere auf das Studium der drei Bände des Kapitals konzentriert war. Bedauerlich ist (und das empfinde ich heute stärker als während des Studiums), dass es außer dem Originalstudium der Werke der Klassiker faktisch kein Originalstudium von Philosophen des Altertums, kein Originalstudium von Vertretern der klassischen deutschen Philosophie (Hegel, Feuerbach) und kein Originalstudium von Werken der klassischen Nationalökonomie, des Keynesianismus und des Neo-Liberalismus gab. Im Lehrgebiet „Geschichte ökonomischer Lehrmeinungen“ wurden zwar unter anderem Auffassungen von Adam Smith, David Ricardo und John Maynard Keynes behandelt, das aber immer ohne Rückgriff auf Originalliteratur.
Als Lehrbuch diente uns das 1967 im Dietz-Verlag erschienene Buch „Bürgerliche Ökonomie im modernen Kapitalismus“. Ich habe dieses Buch mit Sicherheit nicht systematisch erarbeitet, wie meine nur punktuellen Unterstreichungen beweisen. Es war schon ein gehöriges Stück Naivität von mir, zu glauben, dass die Beschäftigung mit der „Bürgerlichen Ökonomie“ nicht zwingend notwendig ist, da sie in der marxistischen Ökonomie „aufgehoben“ ist. Interessiert habe ich mich allerdings für die neoklassischen Wachstumsmodelle, da diese über die zugrundeliegende Produktionsfaktorentheorie und der Grenznutzenkonzeption einen mich faszinierenden Bezug zu mathematischen Modellansätzen hatten.
Diese einseitige Orientierung auf das Studium der Klassiker des Marxismus-Leninismus wurde auch dadurch – faktisch zwangsweise – reglementiert, dass es für die Studenten keinen direkten Zugang zu bürgerlicher Literatur im Original gab. An der HfÖ gab es zwar einen so genannten „Westlesesaal“, dieser konnte aber nur mit ausdrücklicher Genehmigung im Rahmen bestimmter studentischer Forschungsaufgaben genutzt werden. Die Bezeichnung „Westlesesaal“ resultierte daher, dass es sich hier um den Teil der sehr guten wirtschafswissenschaftlichen Bibliothek der HfÖ handelte, in dem bürgerliche und westliche Literatur zugänglich gemacht wurde. Trotz dieser nicht unbedeutenden Einschränkungen empfand ich mein Studium nicht als ein ideologisch eingeschränktes Studium.
Das Ökonomiestudium in der zweiten Hälfte der 60er Jahre war vor allen Dingen auch deshalb spannend, weil es in die Zeit fiel, als in der DDR in der Wirtschaftspraxis und in der Wirtschaftstheorie zwei neue Problemstellungen in den Mittelpunkt des Interesses rückten. Das waren Fragen des Übergangs von einer vorwiegend extensiv erweiterten Reproduktion zu einer intensiv erweiterten Reproduktion und der Nutzung mathematischer Verfahren und der elektronischen Datenverarbeitung (EDV) bei der Analyse und Planung ökonomischer Prozesse. Zu meinen „Lieblingsvorlesungen“ gehörte daher zum Beispiel. im Frühjahrssemester 1967/68 die vom Dozenten Dr. Helmut Michael im Lehrgebiet Volkswirtschaftsplanung gehaltene Vorlesung über ein Lineares Optimierungsmodell der Volkswirtschaft der DDR.
Von einem für neue Denkansätze offenes Ökonomie-Studium zeugte auch die Tatsache, dass in den Vorlesungen im Lehrgebiet Politische Ökonomie des Sozialismus bei Prof. Waldfried Schließer das Werk des tschechischen Wirtschaftswissenschaftlers Ota Sik „Ökonomie Interessen Politik“ (Dietz Verlag 1966) eine wichtige Rolle spielte. Zu den mich interessierenden Fachbüchern auf dem Gebiet der Politische Ökonomie gehörte weiterhin das zweibändige Werk des polnischen Ökonomen Oskar Lange, „Politische Ökonomie“, 1969 im Akademie-Verlag .Berlin erschienen. Oskar Lange interessierte mich vor allen Dingen auch deshalb weil sein 1968 im Akademie Verlag-Berlin erschienenes Buch „Einführung in die Ökonometrie“ für mich ein „Grundlagenbuch“ für meine Diplomarbeit und spätere Dissertation war. Mit großem Interesse habe ich auch das 1967 im Verlag Die Wirtschaft erschienene Buch des ungarischen Wirtschaftsreformers Janos Kornai „Mathematische Methoden bei der Planung der ökonomischen Struktur“ studiert.
Welche Probleme und Widersprüche gab es bei der Umsetzung im Studium?
Die aufgezeigten Ansätze der Weiterentwicklung der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspraxis in der DDR der 60er Jahre wurden behindert durch eine dogmatische Auslegung der Politischen Ökonomie des Sozialismus (PÖS). Das Lehrgebiet PÖS hatte einerseits nicht einen vergleichbaren theoretischen Anspruch wie das Lehrgebiet Politische Ökonomie des Kapitalismus (PÖK) mit dem im Mittelpunkt stehendem Studium des „Kapital“ von Karl Marx. Andererseits wurde unter Bezug auf die PÖS oftmals die Deutungshoheit zu grundlegenden Fragen der Wirtschaft beansprucht. Abweichende Auffassungen wurden nicht zugelassen. So musste Prof. Schließer seine auf Ota Sik und Oskar Lange Bezug nehmende Vorlesung PÖS im Studienjahr 1967/68 in den Folgejahren einstellen.
Charakteristisch für die Studienorganisation war, dass diese im Rahmen von Seminargruppen erfolgte. Die Seminargruppen blieben faktisch über die gesamte Studiendauer zusammen. Heute wird auch die organisatorische Gestaltung des Studiums im Verbund von Seminargruppen als „verschultes System“ vordergründig ideologisch als DDR systemimmanent kritisiert. Ich empfand das nicht als nachteilig und alleine die Tatsache, dass wir uns heute noch regelmäßig zu Seminargruppentreffen zusammenfinden (2012 im Vogtland, 2014 in Thüringen, 2015 anlässlich unseres 50 jährigen Immatrikulationsjubiläums in Berlin verbunden mit einem Besuch der jetzigen Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW), 2018 am Ort unseres Ernteeinsatzes in Garzin in Brandenburg und 2020 in meiner Heimatstadt Schwerin) ist ein Indiz dafür, dass diese Studienorganisation so falsch ja wohl nicht gewesen sein kann.
Als kennzeichnend für die Weltoffenheit unseres Studiums empfand ich, dass in meiner Seminargruppe mehr als die Hälfe der Studenten aus dem Ausland kam. Meine ausländischen Kommilitonen kamen aus Israel, Marokko, Südafrika (zum Studium an die HfÖ delegiert von der südafrikanischen Befreiungsbewegung ANC), Spanien, Guinea, Jordanien, Algerien und Lybien. Außerdem hatte ich engere Kontakte zu Gordon Sobha aus British-Guyana. (Anmerkung: Er kam 1976 bei einem Terroranschlag auf ein kubanisches Flugzeug ums Leben, als er sich an Bord in der kubanischen Maschine „Cubana CU-455“ auf dem Rückflug von der Beerdigung seines Vaters in Britisch Guyana befand. Der Anschlag galt der kubanischen Fechtnationalmannschaft. Die Attentäter wurden durch den CIA unterstützt. Hier zeigt sich an einem mich ganz persönlich betreffenden Ereignis des „Kalten Krieges“ wie einseitig die USA interpretierte, was guter und was böser Terrorismus ist. Mehr dazu kann bei Google unter: „Cubana de Aviacion Flug 455“ finden.)
Mein Studium an der HfÖ war darüber hinaus durch eine sehr frühzeitige Förderung durch meinen Doktorvater Prof. Hans Waschkau geprägt. Er betreute bereits im 2. Studienjahr eine Hausarbeit von mir, die Fragen der Klassifizierung statistischer Elastizitätsfunktionen aufgrund ihrer mathematischen Eigenschaften zum Gegenstand hatte, und lenkte frühzeitig unsere Aufmerksamkeit auf die statistische Analyse volkswirtschaftlicher Zusammenhänge unter Anwendung sogenannter. Produktionsfunktionen. Hans Waschkau gewann neben mir noch meine Kommilitonen Peter Weiß und Heinz Horstmann für diese „studentische Forschungsarbeit“. Bereits frühzeitig zu Beginn des vierten Studienjahres (11.10.1968) erhielten wir das Thema unserer Diplomarbeit: „Experimentelle Berechnungen von Produktionsfunktionen für die Volkswirtschaft der DDR und ausgewählte Bereiche“.
Im Januar 1969 reichten Peter Weiß und ich im Fach Volkswirtschaftsplanung eine Hausarbeit zum Thema „Möglichkeiten der Anwendung von Produktionsfunktionen zur Gewinnung von prognostischen Erkenntnissen in der Prognose volkswirtschaftlicher Hauptfaktoren“ ein. Auf der III. Zentralen Leistungsschau der Studenten und jungen Wissenschaftler 1969 in Rostock stellten wir die Ergebnisse unserer Kollektivarbeit zum Thema „Einführung in die Theorie der statistischen Produktionsfunktion und ihre Anwendung in der Wirtschaftspraxis“ vor. Am 25.06.1969 verteidigten wir unsere Diplomarbeit. Diese Arbeit wurde danach im Rahmen eines Forschungsstudiums gemeinsam fortgeführt. Am 10.12.1971 verteidigten wir unsere Dissertationsschrift erfolgreich.