Autor: Uwe Reinicke
Dr. Uwe Reinicke wurde 1968 immatrikuliert und schildert, wie die Entwicklung neuer gesellschaftswissenschaftlicher Disziplinen sein Studium an der Hochschule für Ökonomie inhaltlich und organisatorisch beeinflusst haben.
Wer kennt noch die Buchstabenkombination MLO, die für die „Marxistisch-Leninistische Organisationswissenschaft“ stand? Als ich am 25.09.1968 mein Studium an der Hochschule für Ökonomie begann, hatte ich davon jedenfalls auch keine Ahnung, denn ich hatte mich für die Fachrichtung „Statistik“ beworben und wurde dementsprechend Mitglied der Seminargruppe „Statistik I/2“ (erstes Studienjahr, 2. Statistik-Gruppe). Zusammen mit 6 weiteren Seminargruppen der Datenverarbeitung gehörten wir zur Fakultät „Sozialistische Wirtschaftsführung, Datenverarbeitung und Statistik“.
Dies sollte sich jedoch schnell ändern:
In Umsetzung der 3. Hochschulreform wurde auf Weisung des Rektors neben anderen auch die Sektion „Organisation ökonomischer Systeme und Prozesse im Sozialismus“ gegründet, die bald in „Marxistisch-Leninistische Organisationswissenschaft“ umbenannt wurde und alle 8 Seminargruppen meiner ehemaligen Fakultät aufnahm. (Wir wurden die Gruppe „MLO 68/8“ – Studienbeginn 1968, 8. Gruppe dieses Jahrgangs). Gleichzeitig änderte sich für uns damit eben auch die zu studierende Fachrichtung. Die Statistik blieb zwar ein wichtiges Hauptfach, aber im Zentrum stand nun vor allem die neue Disziplin.
Dementsprechend wurde das Studienprogramm neu gestaltet: Im Rahmen der Fachausbildung hatten wir vor allem Lehrveranstaltungen zur MLO und damit zur Wissenschaft- bzw. Wirtschaftsorganisation, zur Systemtheorie, Ökonomischen Kybernetik und – als Spezialisierung allerdings nur in meiner Seminargruppe – auch zur Soziologie. Wir erlernten Grundlagen der Datenverarbeitung und verschiedene Programmiersprachen (FORTRAN, Algol und MOPS) und bekamen eine Einführung in ESER (Einheitliches System Elektronischer Rechentechnik). Außerdem fanden für alle Fachrichtungen (mit Ausnahme der Außerwirtschaftsstudenten) im 4. Semester Vorlesungen zur mathematisch-ökonomischen Modellierung statt. Allein das Mitschreiben des „Mehrperioden-Produktions-Optimierungsmodells“ in der Vorlesung füllte mehrere Seiten meines Blockes. Für uns „ehemalige“ Statistiker wurde anschließend die Mathematikausbildung noch um weitere zwei Semester auf das planmäßige Zeitniveau der anderen MLO-Gruppen aufgestockt. Am Ende des 3. Studienjahres standen dann neben der komplexen Hauptprüfung in MLO auch Hauptprüfungen in anderen wichtigen Fächern (z. B. Politische Ökonomie, Marxismus-Leninismus, Betriebswirtschaft, Volkswirtschaft, Wirtschaftsrecht) und ebenfalls in Statistik an.
Hintergrund dieser Entwicklung war, dass mit wesentlicher Hilfe der neuen MLO eine „wissenschaftliche Analyse des gesamten Leitungsprozesses der gesellschaftlichen Entwicklung“ (vgl. „Politische Ökonomie des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR, Dietz Verlag 1969, S. 373 ff.; Hervorhebung: U.R.) erstrebt wurde, für die auch Erkenntnisse der Systemforschung, der Kybernetik, der Organisationsforschung usw. sowie vielfältige mathematische Modelle und die Möglichkeiten der Datenverarbeitung genutzt werden sollten. Hatten bereits mit dem „Neuen Ökonomischen System“, das schrittweise ab 1963 eingeführt wurde, Warenbeziehungen und Wertkategorien einen größeren Stellenwert erhalten, so wurden mit der 1967 formulierten Erkenntnis, der Sozialismus sei kein kurzfristiges Durchgangsstadium, sondern eine relativ selbständige Gesellschaftsformation, neue Anforderungen an das gesamte gesellschaftliche Leben gestellt. Als erstes Studienjahr in der Studiengeschichte begann deshalb auch unser Grundstudium mit Vorlesungen und Seminaren in „Politischer Ökonomie des Sozialismus“ und nicht erst mit Politischer Ökonomie des Kapitalismus (PÖK).
Bald änderten sich allerdings die Rahmenbedingungen unseres Studiums erneut. Schon Ende 1970 zeichnete sich eine Abkehr vom bisherigen Vokabular ab, was später – nach dem VIII. Parteitag der SED – in eine neue Gesellschaftspolitik mündete. Damals arbeitete ich zusammen mit einem Kommilitonen an einer wissenschaftlichen Hausarbeit über Gesetzmäßigkeiten der Wirtschaftsorganisation in der DDR und ihren zukünftigen Herausforderungen. In einer gerade stattfindenden ZK-Sitzung wurde zwar „nur“ eine inflationäre Verwendung des Begriffes „System“ deshalb gegeißelt, weil in einer Bauunterlage nicht mehr von Türen und Fenstern, sondern vom „System der öffnungsschließenden Bauelemente“ gesprochen worden war. Am gesamten Kontext war aber unschwer zu erkennen, dass es sich um einen grundsätzlichen Angriff auf die bisherige gesellschaftstheoretische Begrifflichkeit handeln musste. Wir waren daher verunsichert und baten deshalb unseren wissenschaftlichen Betreuer um Rat. Er empfahl uns, „vorsichtig“ bei der Verwendung der bisher so üblichen Termini zu sein. Das hat sich dann ausgezahlt; die Arbeit wurde mit „sehr gut“ bewertet.
Immerhin steht auf meinem Abschlusszeugnis für den „Hochschulökonom“ vom 01.04.1972 noch MLO für die Sektion und für die Fachrichtung. Allerdings verschwanden alsbald bisherige Fächerkombinationen, und neue Erklärungen hielten in Vorlesungen und Seminare Einzug. Es entstand schließlich die Sektion „Leitung, Informationsverarbeitung und Statistik“ (so auf meinem Diplomzeugnis von 1973). Die Fachrichtung MLO an der HfÖ verschwand damit ebenso still und leise, wie 1973 die erst im Jahr 1969 lautstark gegründete „Akademie der Marxistisch-Leninistischen Organisationswissenschaft “ (AMLO).
Für einige meiner Kommilitonen beinhaltete die MLO allerdings sogar eine ganz andere, nämlich praktische Erfahrung: Während eines mehrwöchigen verpflichtenden Arbeitseinsatzes 1969 war die Mehrzahl der Studenten an der Neugestaltung des Alexanderplatzes und seiner Umgebung eingesetzt; ein Teil jedoch half in der Nähe des S-Bahnhofes Wuhlheide mit beim Aufbau der AMLO. Als „Innovationspark Wuhlheide“ hat das Gelände bis heute überlebt.
So bleibt zum Schluss nur die Feststellung, dass die MLO unter konkreten historischen Bedingungen entstand. Als sich diese wesentlich veränderten, musste sie – wie manches andere aus der damaligen Zeit – scheitern. Aber deshalb war sie doch trotzdem so etwas wie eine wissenschaftstheoretische Innovation, oder?
Und ich kann sagen: Ich bin dabei gewesen!