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Objektive Gesetze treten nicht außer Kraft

Autor: Joachim Seider

Dr. Joachim Seider (STAT 68/1) hat seine Lebenserinnerungen für die Enkel aufgeschrieben. Der Abschnitt über die Zeit an unserer Hochschule umfasst dabei mehr als 100 Seiten. Freundlicherweise hat uns Achim eine stark gekürzte Beschreibung seines Lebensweges gesendet.

In der Geschichte vieler Bauernfamilien wird von klugen und lebensweisen Menschen berichtet. Dennoch war es ihnen Jahrhunderte lang vorbestimmt, Bauern zu bleiben, bestenfalls als Handwerker ihr Leben zu fristen oder als Soldaten auf den Schlachtfeldern der Welt zu enden. Nie wäre einem meiner Ahnen auch nur im Traum eingefallen, einer seiner Nachkommen könne einst eine Hochschule besuchen und sie gar noch mit einem Doktortitel wieder verlassen. Genauso wie sie früher schrieb ich meine ersten Buchstaben mit dem Griffel auf eine Schiefertafel. Und auch in unserer kleinen Dorfschule wurden anfangs die Schüler aller acht, später vier, Klassen noch in einem einzigen Raum gemeinsam unterrichtet. Aber im Gegensatz zu meinen Vorfahren hatte ich das Glück, in einer zwar armen, aber bildungs- und menschenfreundlichen Republik aufzuwachsen. Nur wenige Jahre später gab es auch im letzten Winkel der DDR Polytechnische Oberschulen. Auch in unserem winzigen Dörfchen war es bald nichts Besonderes mehr, dass jemand anschließend die Erweiterte Oberschule (EOS) besuchen konnte. Auch der Schritt ins Studium war für mich und meine Altersgenossen ganz selbstverständlich. Dass das Einkommen meiner Eltern mehr als bescheiden war, spielte keine Rolle. Der Staat, in dem ich lebte, garantierte Sicherheit beim Lernen. Was für ein Satz, gälte er auch heute noch so uneingeschränkt wie damals.
Bei der Berufsberatung in der EOS stieß ich auf das Studienfach Statistik. Das klang exotisch. „Das willst du studieren?“, fragten mich meine Mitschüler mehr mitleidig als interessiert.
1968, das Jahr meines Studienbeginns, war außerordentlich spannend. Die DDR schmiedete große Pläne, wie der Weg in die Zukunft mit Hilfe eines Neuen Ökonomischen Systems weitergehen solle. In der CSSR hatte es harte Auseinandersetzungen um den künftigen Kurs gegeben, die zu einer außerordentlich ernsthaften Situation geführt hatten. In den Ländern des Westens begehrte die junge Generation gegen den „Muff aus tausend Jahren unter den Talaren“ auf. Und in China stürzten die Roten Garden ein ganzes Land ins Chaos, um angeblich in einem gewaltigen Sprung aus dem Feudalismus in den Kommunismus zu gelangen.
Mein Studium an der Hochschule für Ökonomie erwies sich als ausgesprochener Glückstreffer, um die vielen Fragen zu beantworten, die sich da stellten. In den Vorlesungen zur Politischen Ökonomie des Sozialismus sezierte Prof. Waldfried Schließer vor unseren Augen die verschiedenen Vorstellungen über die weitere Entwicklung des Sozialismus so gekonnt, dass uns gar nichts anderes übrig blieb, als seine Anregungen weiterzudenken. Dr. Götz Scharf stand ihm in Fragen der Polemik in den Vorlesungen zur Philosophie nicht nach. Unser Seminarlehrer im Fach Politische Ökonomie des Kapitalismus gewöhnte uns gründlich das Moralisieren ab, wenn es um unsere Sicht auf die historische Begrenztheit der kapitalistischen Produktionsweise ging. Auch außerhalb des eigentlichen Studiums gab es immer die Chance, über alles Mögliche zu diskutieren. Dabei hatte ich immer das Gefühl, das sei ausdrücklich gewünscht. Schließlich sollte die Methode der materialistischen Dialektik, deren Handhabung wir mühsam erlernten, nichts für die Prüfung Eingepauktes sein, sondern etwas, mit dem sich die uns umgebende Welt besser verstehen ließ. Wird sie heute auch oft geschmäht: Ich bin denen, die sie uns damals nahebrachten nach wie vor sehr dankbar. Sie hat sich als besserer Kompass erwiesen, als viele hochgelobte Theorien, die seit der Wende über uns gekommen sind. Dass wir zur geistigen Enge gezwungen worden wären: Ich kann das nicht bestätigen.
Übrigens galt, was sich bereits in der Schulzeit als förderlich erwiesen hatte, im Studium weiter: Gemeinsam geht es besser. Wir fühlten uns füreinander verantwortlich und praktizierten das auch in vielen Formen. Was haben wir manchmal über den Umfang gesellschaftlicher Arbeit gestöhnt, die an der HfÖ zu leisten war. Allerdings hat uns dieses Miteinander in der Seminargruppe, der FDJ- und der Parteiarbeit für die Zukunft gewiss nicht wenige Erfahrungen und Bindungen mitgegeben. Wohl auch deshalb treffen sich viele der damaligen Kommilitonen, darunter auch die meiner Seminargruppe, Jahrzehnte nach dem Studienabschluss immer noch gern.
Ausgerechnet in Mathematik, in der EOS noch eine meiner Stärken und als eine der Säulen künftiger volkswirtschaftlicher Leitung ausgemacht, geriet ich schneller als erwartet an meine Grenzen. Und noch trauriger: Im Fach Allgemeine Statistik, das ich ab 1973 selbst unterrichtete, brachte ich es mit Ach und Krach gerade mal zu einem „Befriedigend“. Das hat mir eine wichtige Lehre vermittelt: Ich hatte selbst durchlebt, wie schwer es sein kann, sich bestimmte Lerninhalte anzueignen. Da konnte es nicht falsch sein, anderen diesen Prozess möglichst zu erleichtern. Dem oft gehörten Satz „Die Studenten werden immer dümmer“ mochte ich mich inhaltlich nie anschließen. Zudem kann es ja nicht falsch sein, Reserven in der Lehre zunächst dort zu suchen, wo sie am leichtesten zu finden sind: Bei sich selbst.
Im dritten Studienjahr hatte ich das Glück, von der HfÖ zur Fortsetzung der Ausbildung an die Staatsuniversität Tbilissi delegiert zu werden. Wir sollten uns in Georgien besonders auf dem Gebiet der Wahrscheinlichkeitstheorie erweiterte Kenntnisse aneignen. Allerdings wurde dann an der ökonomischen Fakultät, in der wir schlussendlich landeten, doch wesentlich mehr für unsere politökonomische Befähigung getan, als für die mathematische.

Dieses Bild aus der Sächsischen Zeitung vom 25. Mai 1973 zeigt Joachim Seider gemeinsam mit Rudolf Swat (ML0 69/1) in ihrer Studentenbude an der Universität in Tblissi.


Deshalb war ich nicht sonderlich böse, dass die Pläne zur Mathematisierung der Planung und Leitung der Volkswirtschaft der DDR weitgehend Vergangenheit waren, als ich aus der Sowjetunion zurück kehrte. Trotzdem glaube ich, dass viele der zu jener Zeit angestellten Überlegungen visionär waren und wertvoll geblieben sind. Bei einem meiner zwischenzeitlichen Besuche an der HfÖ hatte ich Prof. Richard Struck getroffen. Er war der Leiter des Wissenschaftsbereiches Statistik und interessierte sich sehr für unsere Erfahrungen beim Auslandsstudium. Dieser Begegnung verdankte ich 1973 die Einstellung als wissenschaftlicher Assistent im Bereich Statistik. Studenten auszubilden war anspruchsvoll. Auch die Arbeit an der Promotion hat mir viele wertvolle Fähigkeiten und Einsichten vermittelt.
An unserer Hochschule habe ich auch die Frau fürs Leben gefunden. Während meiner Zeit an der HfÖ kamen unsere drei Kinder zur Welt. Die DDR war nie ein besonders reiches Land. Aber kinderfreundlich war sie immer. Beispielsweise war es überhaupt kein Problem für uns, einen Krippenplatz zu bekommen. Unsere Hochschule hatte, wie viele andere Einrichtungen und Betriebe der DDR auch, eine Kinderkrippe. In der waren die Kinder der Studenten und Mitarbeiter gut aufgehoben. Das Studium, Qualifizierung und Elternschaft miteinander verbinden zu können, war ausdrücklich gewollt. Höre ich heute die Klagen junger Familien über die Probleme bei der Suche nach einem Kitaplatz, muss ich unwillkürlich an erlebte Fürsorge denken, die nicht nur in dieser Frage für uns zum Alltäglichen gehörte.
Ende 1978 wechselte ich als Mitarbeiter in die Zentrale Parteileitung der Hochschule. Wie in späteren Tätigkeiten auch hatte ich es dort mit vielen klugen und engagierten Menschen zu tun. An die Zusammenarbeit mit ihnen denke ich dankbar zurück. Die nächsten Jahre führten mich als Sekretär in eine Berliner SED-Kreisleitung und später als Mitarbeiter an die Parteihochschule „Karl Marx“. Dass ich dort aus dem Stand heraus Politische Ökonomie unterrichten und Forschungen zum internationalen Produktivitätsvergleich in Angriff nehmen konnte, verdanke ich weitestgehend den Befähigungen, deren Wurzeln an der HfÖ gelegt wurden.
Die Wendejahre und die Zeit danach erwiesen sich als hart. Mein Weg führte mich zunächst als Zusteller zur Deutschen Post und danach bis zum Ende meiner Berufstätigkeit als Tankwart und Kassierer ins Tankstellengewerbe. Anfangs war es ungewohnt, wieder dort angekommen zu sein, von wo aus ich einmal aufgebrochen war. Die neue Zeit zeigte dem, wofür ich mich engagiert hatte, die kalte Schulter. Verblüfft musste ich registrieren, dass die Gesellschaft auch Qualifikation für überflüssig halten konnte. Den Begriff „überqualifiziert“, den ich bei vielen meiner Bewerbungen zu hören und zu lesen bekam, habe ich nie richtig verstehen können. Auch das sagt mir: Die letzten Seiten des Buches der Geschichte sind noch längst nicht geschrieben. Objektive Gesetze nehmen manchmal seltsame Wege. Außer Kraft treten sie dennoch nicht.