Autor: Matthias Herrmann
Dr. Matthias Herrmann (VW 66/2) berichtet über sein Forschungsstudium, seine erfolgreiche kollektive Promotion und die ernüchternden Begegnungen in der Wirtschaftspraxis.
Meine Erinnerung an die Studienzeit an der HfÖ ist von einer nicht zu leugnenden Ambivalenz geprägt. Ich meine damit die sich in meinem späteren Berufsleben abzeichnende Divergenz zwischen Theorie und Praxis.
Nach dem Grundstudium an der Sektion Volkswirtschaft eröffnete sich für mich und meine Kommilitonen Johannes Winkler (VW 66/3) und Alfred Deicke (VW 66/2) die Chance, im Fachbereich Territorialökonomie bei Prof. Rolf Bönisch ein Forschungsstudium aufzunehmen.
Das Forschungsstudium war Ergebnis der Dritten Hochschulreform 1968 und hatte zum Ziel, einen nahtlosen Übergang vom Direktstudium in die wissenschaftliche Forschungstätigkeit zu schaffen. Es war im Prinzip die erweiterte Stufe eines postgradualen Studiums, indem das 4. Studienjahr, das wir im Fachbereich Territorialökonomie belegt haben, parallel als das 1. Forschungsstudienjahr gewertet wurde. Das Forschungsstudium musste mit der Einreichung einer Dissertationsschrift nach dem 6. Studienjahr beendet sein.
Die Grundlagen unserer Forschungstätigkeit fanden ihren Ausgangspunkt bereits in der Diplomarbeit, in der wir die Anwendung ökonomisch-mathematischer Methoden in der Standortplanung untersuchten. Dazu diente unserem Dreier-Kollektiv als Ausgangspunkt ein Fallbeispiel zur Bestimmung optimaler Standorte auf einem speziellen Gebiet der territorialen Infrastruktur. Wir haben das Forschungsstudium planmäßig und erfolgreich mit Abgabe der Dissertation zum September 1972 abgeschlossen.
Diese drei Jahre intensiven Studiums territorial-ökonomischer Prozesse in der damaligen DDR haben unser kleines Kollektiv geprägt und geformt. Einen nicht geringen Anteil daran trug Dr. Dieter Casper, der uns im Auftrag des Wissenschaftsbereichs Territorialökonomie über die gesamte Zeit des Forschungsstudiums betreute. Unsere Forschungstätigkeit war auf die staatliche Leitung und Planung territorial-ökonomischer Prozesse bei der Standortfindung ausgewählter Bereiche ausgerichtet, z. B. die Optimierung von Wohnungsbaustandorten in ausgewählten Städten und Gemeinden.
Sehr gut erinnere ich mich noch daran, dass unser „Doktorvater“ Prof. Rolf Bönisch darauf bestand, dass wir auch eine Diplomarbeit schreiben und verteidigen sollten, obwohl dies laut Forschungsauftrag nicht vorgesehen war. Aber er beharrte darauf und setzte sich im wissenschaftlichen Rat mit seiner These durch: „Was weiß ich, ob die Drei es bis zur Dissertation überhaupt schaffen, so haben sie wenigstens ein Diplomzeugnis in der Hand.“ Die Verteidigung dieser Diplomarbeit fand dann im Sommer 1970 im Rahmen einer „Gartenparty“ unter Anwesenheit einiger Mitarbeiter des Wissenschaftsbereichs auf seinem Grundstück in Berlin-Köpenick statt. Diese Verteidigung haftet ewig in unserem Gedächtnis ebenso die Dissertation-Verteidigung mit anschließender Feier in der damaligen Balkangrill-Gaststätte am S-Bahnhof Karlshorst.
In Erinnerung bleibt mir auch eine Auslandsstudienreise 1971 nach Moskau und Leningrad, die für uns im Nachhinein durch unseren Professor organisiert wurde, da wir die für 1970 geplante Reise auf Grund der Diplomverteidigung nicht antreten konnten. Unser Reisebetreuer war Dr. Friedhelm Meissner, wissenschaftlicher Mitarbeiter des WB Territorialökonomie.
Zum 1. Oktober 1972 nahm ich meine Arbeit in der Bezirksplankommission Karl-Marx-Stadt als Leiter des Sektors Industrie auf. Nach sechs Jahren Studium marxistisch-leninistischer Grundlagen wurden mir bereits nach drei Monaten Praxis die Augen geöffnet, indem mir der damalige Vorsitzende der Bezirksplankommission und Mitglied der SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt die provokatorische Frage stellte, ob ich schon den Unterschied zwischen Theorie und Praxis feststellen würde. Von dem damaligen Zeitpunkt an sah ich für mich für höhere Aufgaben in der Bezirksplankommission keine Perspektive mehr.
Viele werden sich noch an den Beschluss der Partei- und Staatsführung der DDR zur Erhöhung der Konsumgüterproduktion erinnern. Zur Umsetzung dieses Beschlusses in Karl-Marx-Stadt wurde mir die Aufgabe zuteil, mit ausgewählten Vertretern wichtiger Industrie-Betriebe des Bezirkes Beratungen über die Umsetzung dieses Parteibeschlusses durchzuführen. Vor allem in den Pausengesprächen entnahm ich eine Stimmung unter den anwesenden führenden Genossen, deren Meinung es war, nur mit zusätzlichen Ressourcen, wie Arbeitskräften und Baukapazitäten, diese gesteckten Ziele betreffs der zusätzlichen Produktion von mehr Konsumgütern in jedem Betrieb erfüllen zu können.
Seit dieser grundsätzlichen Auseinandersetzung mit hochrangigen Vertretern der Wirtschaft war mir klar geworden, dass ich mich – wie Karl Marx es postulierte: „An allem ist zu zweifeln“ – irgendwann um eine andere Arbeitsstelle umsehen musste.
Und diesen inneren Entschluss habe ich dann 1978 umgesetzt, indem ich beim Rat des Bezirkes gekündigt habe und in die Privatwirtschaft eingestiegen bin. Dieser Schritt war aber mit vielen Höhen und Tiefen verbunden, was sich von selbst versteht.
Nach der Wende habe ich dann mein Geld in der Logistikbranche eines größeren Unternehmens verdient.
Der Kontakt mit Johannes Winkler ist bis zum heutigen Tage nie abgerissen. Der Dritte im Bunde, Alfred Deicke, ist leider schon sehr frühzeitig infolge eines Verkehrsunfalls verstorben. Er war bis zu seinem Tode Vorsitzender der Plankommission beim Rat des Bezirkes Magdeburg.